Auserwählt – Die Linie der Ewigen (German Edition)
stellen und konnte doch nur ein einziges Wort hervorbringen, auf das es in den seltensten Fällen eine Antwort gab.
„Warum?“
Daron hatte in der Zwischenzeit nach einem Taschentuch gegriffen und war dabei, mir damit vorsichtig die Tränen zu trocknen. In seinen Augen lag so viel Fürsorge, dass es mich nahezu zerriss, zu wissen, dass mir dieser Mann, den ich von ganzem Herzen liebte und ohne den ich nie wieder sein wollte, den wichtigsten Menschen in meinem Leben genommen hatte.
„Es war sein Schicksal“, antwortete Daron bedächtig. Ich bemerkte, wie es hinter seinen Augen arbeitete. „Bitte, sieh mich nicht so vorwurfsvoll an. Ich bin nicht derjenige, der die Regeln macht.“
Wut entflammte in meinen Eingeweiden und fraß sich wie eine Schlange meine Gedärme entlang nach oben, bis sie sich in einer hysterisch hohen Stimme äußerte, die ich selber nicht als meine eigene erkannte.
„Und wer macht dann die Regeln, Daron, wenn nicht du und deinesgleichen?“
Betroffenheit überzog sein Gesicht und vermischte sich mit der Sorge zu einem Ausdruck von Schmerz und – Verständnis.
„Jeder macht die Regeln für sich selber, Aline. Jeder einzelne bestimmt sein Leben selbst, noch bevor er geboren wird. Ich weiß, das ist schwer zu verkraften, und vielleicht sollten wir das Ganze bis auf nach dem Frühstück verlegen, wenn du wieder etwas gefasster bist.“
„Nein! Erkläre es mir jetzt!“, fauchte ich ihn an und gab mir nicht die geringste Mühe, meinen Zorn zu verstecken.
Vorsichtig taxierte Daron mich, als würde er abwägen, was er tun sollte.
„Also gut“, seufzte er nach einer Weile und strich sich in der mir mittlerweile so vertrauten Geste das glatte, schwarze Haar hinter sein Ohr. Eine Geste, die ich liebte und die mich so tief in meinem Inneren berührte, dass sie innerhalb einer Sekunde das Feuer der Wut erstickte, bevor es mich vollständig auffressen konnte. Er war so schön, so unfassbar attraktiv, wie er vor mir saß und seine Stirn angestrengt in Falten legte. Ich fühlte mich mit jeder Faser meines Körpers zu ihm hingezogen und konnte es kaum ertragen, ihm solchen Kummer zu bereiten. Doch ich brauchte Antworten.
Besser jetzt als später.
„Ich kann dir nicht alles sagen, Aline. Es gibt Dinge, die nur den Ewigen vorbehalten sind und unter keinen Umständen weitergegeben werden dürfen. Nennen wir es meinetwegen Berufsgeheimnis, wenn es dir dadurch besser verständlich wird.“
Ich nickte still und bedeutete ihm, fortzufahren.
„Das Leben ist ein ewiger Zyklus, Geburt und Tod sind beide zugleich Anfang und Ende, je nachdem, von welcher Seite du es betrachtest. Die Körper der Menschen sind nur eine Hülle“, sagte er, nahm dabei meine Hand und legte sie an seine nackte, unwiderstehlich ausgeformte Brust. „Sie sind ein Gefäß mit begrenzter Haltbarkeit für das Unsterbliche. Für die Seele.“ Bei diesem Wort verstärkte Daron den Druck auf meine Hand.
„Eine Seele ist schlicht ausgedrückt nichts anderes als eine Art Energie. Energie gleich welcher Art verschwindet nicht einfach, sie transformiert, sie verändert sich. Sie entschlüpft dem einen Gefäß, um sich nach einer bestimmten Zeit ein neues zu erwählen. Verschiedenste Religionen sprechen in diesem Zusammenhang von dem Wunder der Wiedergeburt. Auch wenn ich persönlich dieses Wort unpassend finde, da etwas, das bereits existiert, nicht geboren werden kann, so drückt es doch im Grunde das aus, woraus die Welt besteht. Aus einem ewigen Kreislauf, einem empfindlichen System, das durch nichts gestört werden darf. Blumen beispielsweise vergehen nach einer bestimmten Zeit, nur um im nächsten Zyklus in neuer Pracht wieder zu erblühen. Die gesamte Natur begibt sich vor der Kälte des Winters in eine Art Schlaf, um im Frühling zu neuem Leben zu erwachen. Wenn ich die Seele eines Menschen empfange, weise ich ihr den Weg in die Anderswelt, über die wir gestern schon gesprochen haben. Sieh die Anderswelt als eine Art Kurort, an dem sich die Seele von den Strapazen des Lebens ausruht und von dem sie, wenn sie dazu bereit ist, wieder zu einer neuen Reise aufbricht. Jede Reise, jedes Leben dient nur einem einzigen Zweck – der Vervollkommnung. Dem Lernen. So viel wie möglich in sich aufzunehmen, gleich welcher Art das auch sein mag. Es gibt Seelen, die sich dazu entschließen, ein einfaches Leben zu führen und ein hohes Alter zu erreichen. Und es gibt Seelen, die nur sehr kurz auf der Erde weilen. Gleich wie lange sie alle
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