Auserwählt – Die Linie der Ewigen (German Edition)
er sich, während vor meinen Augen sein Blut immer größere Teile seiner Kleidung durchtränkte. Panik erfasste mich, ich wollte ihm helfen, die Blutungen stoppen. Ich stieß mich von der Wippe ab und fiel in den weichen Sand. Mühsam versuchte ich auf meinen Vater zuzukriechen, indem ich mich mit den kurzen Ärmchen nach vorne zog, doch je mehr ich mich anstrengte, ihn zu erreichen, desto langsamer kam ich voran. Ich kreischte und schrie hysterisch, er müsse sich Hilfe holen, er würde sonst verbluten. Doch nach wie vor rührte er sich nicht, sondern schenkte mir das Lächeln, das er nur für mich reserviert hatte, ein Lächeln voller Güte und Liebe. Mit diesem Lächeln hatte mich mein Vater immer dann angesehen, wenn er mich trösten wollte, sei es wegen eines aufgeschlagenen Knies, schlechter Schulnoten oder – später – des ersten Liebeskummers. Es war das Lächeln eines Vaters, dessen Herz erfüllt war von Stolz auf sein einziges Kind und so einzigartig wie der Abdruck eines Zeigefingers. Es war seine Art, mir zu zeigen, dass es nichts auf der Welt gab, was sich jemals zwischen uns stellen würde. Ich schrie wie von Sinnen und griff weiter vergebens vor mir in den hellen Sand, während mir vor Angst und Verzweiflung die Tränen in Sturzbächen die Wangen herunterliefen. Noch während ich panisch versuchte, voranzukommen, sah ich, wie Daron wie aus dem Nichts neben meinen Vater trat, dessen Kleidung mittlerweile fast vollständig von Blut bedeckt war. Es floss über seine Arme und Hände, um schließlich in konstanter Geschwindigkeit ins Gras zu tropfen. Beide standen sie einfach da und beobachteten meinen vergeblichen Kampf.
„Daron, bitte hilf meinem Vater!“, schrie ich mit letzter Kraft und versuchte, mich an der Wippe in seine Richtung zu ziehen. Doch Daron tat nichts dergleichen und legte stattdessen meinem Vater eine Hand auf die Schulter. Dann drehten sich beide wortlos um und gingen davon. Sie ließen mich einfach alleine zurück. In mir wuchs die Verzweiflung, meinen Vater zu verlieren, ohne etwas dagegen tun zu können, und so schrie ich aus Leibeskräften, bis ich aufgeregt jemand meinen Namen rufen hörte.
„Aline? Aline, wach auf, bitte, wach auf!“
Panisch schlug ich die Augen auf und wusste im ersten Moment nicht, wo ich war. Dann sah ich Daron, wie er sich über mich gebeugt hatte. Seine Hände hielten meine Arme fest, Sorgen waren in sein Gesicht geschrieben.
„Es ist alles in Ordnung, Kleines, es war nur ein Traum.“
Mit diesen Worten strich er mir über die Stirn, und ich bemerkte, dass ich schweißgebadet war. Als er sah, wie ich meinen Blick auf seine Hand richtete, die noch immer auf meinem Arm ruhte, ließ er mich augenblicklich los.
„Du hast so wild um dich geschlagen, dass ich Angst hatte, du würdest dich verletzen.“
„Es ist okay, ich … bin okay“, flüsterte ich und hatte Mühe, einen Laut aus meiner ausgedörrten Kehle zu pressen. Mühsam setzte ich mich auf und spürte, wie sich ein fieser Schmerz in meinem Kopf auszubreiten drohte. Behutsam strich mir Daron einige nasse Strähnen aus dem Gesicht und lächelte mich an. In diesem Moment zog sich alles in mir zusammen, und ich wusste wieder, was ich geträumt hatte. Die Erkenntnis traf mich von hinten mit voller Wucht und hinterließ nichts als nackten, unbarmherzigen Schmerz.
„Du … hast meinen Vater geholt“, sprach ich leise, während ich versuchte, mein Herzrasen und meine beschleunigte Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Es war keine Frage, vielmehr eine Feststellung.
Traurigkeit mischte sich in Darons Blick, zusammen mit einem neuen Ausdruck.
Schuld.
Es war eine Reaktion, die ich mir, genau betrachtet, eigentlich hätte denken können, und es tat mir in diesem Augenblick unglaublich weh, ihn dieser Konfrontation auszusetzen, wusste ich doch tief in mir drin, er würde absichtlich nie etwas tun, das mir schaden könnte. Aber, verdammt, es gab einfach noch so viel, das wir noch nicht geklärt hatten.
Sanft legte er seine Hand an mein Gesicht und streichelte mit seinem Daumen behutsam über meine Wange.
„Ja, ich habe deinen Vater geholt. Er war ein guter Mann, Aline. Bitte … hasse mich nicht dafür.“
Ich spürte, wie mir etwas Warmes das Gesicht herunterlief, und bemerkte erst jetzt, dass ich weinte. Zu tief saß der Verlust meines über alles geliebten Vaters, und noch tiefer der Umstand, dass ich mich nicht einmal von ihm hatte verabschieden können. So viele Fragen wollte ich
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