Auserwählt – Die Linie der Ewigen (German Edition)
Zurechtrücken ihrer Brille nahm sie den Faden wieder auf.
„Du weißt mittlerweile, dass jeder Normalsterbliche nach seinem … Empfang in die Anderswelt eingeht, von der dir die Jungs bereits erzählt haben. Ewigen und Bewahrerinnen steht dagegen eine andere Möglichkeit offen. Sie können sich entscheiden, auf alle Zeit in der Nebenwelt zu existieren, quasi als nichtkörperliche Wesen. Oder sie entscheiden sich dafür, dass ihre Seelen in dieser Welt verankert bleiben. Weil es jemanden oder etwas gibt, an dem sie besonders hängen. Als Darons Mutter noch nichts von ihrem Schicksal ahnte, gab es einst einen besonderen Baum, unter dessen wachsender Krone sie sich immer setzte und dem Rauschen der Blätter lauschte. Dieser Baum, damals noch vergleichsweise klein und am Anfang seiner Blüte stehend, bedeutete ihr mehr als alles andere. Sie entschied sich dazu, ihre Seele in diesen Baum übergehen zu lassen, um dort ihre Ruhe zu finden …“
Forschend sah sie mich an.
„Meine Pappel?“, flüsterte ich mit einer leicht piepsigen Stimme, wie ich sie oft bekam, wenn ich etwas nicht glauben konnte oder wollte.
„Ja, deine Pappel“, erwiderte Daron hinter mir, und ich drehte mich zu ihm. Er hatte sich inzwischen von Maels Bett gelöst, kam auf mich zu und umarmte mich.
„Du bist eine Bewahrerin und hast ohne es zu wissen deine Verbindung mit der anderen Welt in diesem Baum gespürt. Du hast gespürt, dass dieser Baum für dich mehr war als nur Rinde und Blätter. Es war nicht der Baum, der dir stets Ruhe und Trost gespendet hat. Es war Mutters Seele. Sie hat dich zu mir geführt. An dem Abend, als du mich dort gesehen hast, habe ich mich mit ihr unterhalten. Nicht mit Worten, mit Gedanken. Sie ließ mich wissen, dass sie seit einiger Zeit eine hübsche und interessante junge Frau mit einem starken Willen beobachtet hatte, die sich oft an ihren Stamm lehnte. Eine junge Frau mit dem Talent, in die andere Welt zu blicken. Die Frau, die mein Schicksal werden würde. Ich dachte erst, sie mache einen Scherz. Doch dann riet sie mir, nach rechts zu blicken. Dort standst du an der Haltestelle. Ich sah dich und schon bei diesem ersten Blick spürte ich, was Mutter gemeint hatte. Ich spürte deine Stärke, deine besondere Energie und die tiefe Liebe, die du so gern geben würdest und bisher doch nicht geben durftest. Von diesem Moment an wusste ich: Du gehörst zu mir. Und dann hörte ich Mutters zauberhaftes Lachen im Regen, der auf das Blattwerk prasselte. Hatte sie in einem anderen Leben zwar einen großen Fehler begangen, so hat sie in diesem dafür gesorgt, dass wir uns finden. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.“
Zärtlich fasste er mit einer Hand mein Gesicht und streichelte mit seinem Daumen über meine Wange.
„Franziska hat recht. Die McÉags brauchen dich. Ich brauche dich.“
Er gab mir einen Kuss, so sanft wie der Flügelschlag eines Schmetterlings auf nackter Haut. Und neben all seiner Liebe und Hingabe schmeckte ich in diesem Kuss zum ersten Mal seine nahezu verzweifelte Sehnsucht nach Halt und Geborgenheit.
27
Schweigend saß ich auf dem Teppichboden im Wohnzimmer des Penthouse und blickte durch die Glasfront auf die Stadt hinunter. Es war ein grauer Sonntagnachmittag, so wie sie im November öfter vorkamen. Ich betrachtete die verschiedenen Häuser und Dachbauten und dachte die ganze Zeit daran, wie innerhalb von nur drei Tagen meine kleine Welt wie ein Schnellzug bei voller Fahrt aus einem defekten Gleis gesprungen und zur Seite gekippt war. All das, woran ich geglaubt hatte, meine Werte und Normen, waren wie Insassen bei diesem Unfall verletzt worden, manche davon schwer. Aber sie lebten weiter, nur in anderer Form. Es würde einige Zeit dauern, bis sie sich erholt hatten. Doch sie würden sich erholen, daran glaubte ich fest.
Während wir wieder nach oben gefahren waren, hatte ich kein Wort gesagt, sondern bereits im Aufzug begonnen, meine Gedanken zu sortieren. Daron war ganz und gar Gentleman und ließ mir den Freiraum, von dem er spürte, dass ich ihn gerade brauchte. Anders hätte ich das alles nicht verarbeiten können.
Jetzt saß ich im Schneidersitz vor den hohen Fenstern und versuchte, mich auf den Ausblick zu konzentrieren. Auch wenn mich der optisch nahtlose Übergang zwischen Glas und vermeintlich freiem Fall am Anfang verschreckt hatte, jetzt bedeutete er keine Gefahr mehr für mich. Ich wusste jetzt, dass meine Zeit noch lange nicht gekommen war, und der Blick hinab auf die Häuser
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