Auserwaehlt
schon vergessen?“
„So meine ich das nicht.“ Auf ihrem Teller türmten sich die Spaghetti. „Ich
meine nur, viele Jugendliche zerbrechen komplett an so was, die wenigsten
schaffen es, das in beruflichen Erfolg umzumünzen. Hagen muss über eine hohe
Resilienz verfügen ...“
War es das? Margot war ja aus ähnlichem Holz geschnitzt, hatte sie Hagen
deshalb so anziehend gefunden? Der Gedanke drehte Clara den Magen um. Sie
musste an die Filmausschnitte denken. Sie sah den Ekel in Margots Gesicht. Mehr
als Verachtung war am Ende für Hagen nicht übrig geblieben.
„Ich meine“, wimmerte Clara, „wir dürfen Hagen nicht unterschätzen.“
„Erfolg?“ Leonhard verzog den Mund. Er schien ihr nicht zugehört zu haben. „Ich
weiß nicht. So ein Eton-Diplom ist doch kein Erfolg, das ist doch die absolute
Anpassung! Das Leben, wie es heute als erfolgreiches stattfindet, ist doch mit
das armseligste, was die Welt zu bieten hat! Suchst du nach Alternativen zu den
kapitalistischen Glücksvorstellungen, verlierst du deine Freiheit.“
Clara stocherte in den Spaghetti herum. Sie kannte die Sprüche. Auch Leonhard
war im Osten aufgewachsen und seine kaum verhohlene Aggression dem Kapitalismus
gegenüber schrieb sie der frühen Indoktrinierung zu, auch wenn sie wusste, dass
er es letztlich nicht so meinte.
Clara stierte vor sich hin. Das Poster an der Wand war von Picasso und zeigte
eine zerstückelte Frau zugleich von vorne, der Seite und von hinten. Das Gesicht
war eine hässliche Maske, mehr nicht.
„Ich habe noch etwas gefunden.“ Leonhards Stimme klang wieder normal. „Es gibt
tatsächlich eine Verbindung zwischen Hagen und Helga Kramer! Ist das nicht
verrückt?“
Clara hörte aufmerksam zu.
„1993 gab Helga Kramer ihr letztes großes Konzert“, sagte er. „Es war im
Gewandhaus in Leipzig. Christine Berger, die Freundin von Helga Kramer, saß mit
ihrem Sohn in der ersten Reihe, die Kramer hat ihnen die Karten geschenkt, weil
ihre Tochter nicht kommen konnte.“
„Hat die Berger das Margot erzählt?“ Margot hatte Clara nichts davon erzählt.
„Christine Berger erinnerte sich genau“, nickte Leonhard. „Helga Kramer trug
damals eine weiße, hochgeschlossene Bluse mit Rüschen, so, wie es sich gehört.
Doch kaum waren die Kameras aus, hat sie sich“, er schluckte, „hat sie sich betrunken
und abschleppen lassen! Von einem Studenten! Es war so beschämend, wie die
beiden knutschend die Straße hinab getorkelt sind, sturzbesoffen und grölend.“
„Und der Student war Hagen oder was?“ Clara sah Leonhard verwirrt an. Sie schob
den vollen Teller beiseite, zog ihren Laptop heraus und startete den Rechner.
Hatte die Berger Margot noch einen Brief geschickt, bevor sie sich umbrachte?
Leonhard schob ihr den Zettel mit dem WLAN-Schlüssel über den Tisch.
„Hagen!“ Wieder schüttelte sie den Kopf, während sie das Passwort eintippte.
„Ich krieg das einfach nicht in meinen Schädel.“
„Hagen, Hagen!“ Leonhards Augen verengten sich zu Schlitzen. „Der stand doch
schon immer auf ältere Frauen.“
Dann sagte er: „Wusstest du, dass er Margot gevögelt hat?“
Clara sah vom Rechner auf. Leonhards Gesicht passte zu dem, was sie eben gehört
hatte.
„Ja, er hat sie ge...“
„Sei still!“, schrie Clara.
Stille.
Erschrocken sahen sie sich an. Leonhard war genauso verwirrt wie sie.
Clara wusste, dass er nur seine Verletzung zu überspielen versuchte, doch
trotzdem war die pubertäre Ausdrucksweise fehl am Platz. Leonhard durfte so
nicht über Margot reden! Niemand durfte das.
Niemand darf das, Liebes. Sie sah durch Leonhard hindurch, während sie wartete, bis sich das
E-Mail-Programm öffnete. Der Boden des Aquariums war mit Steinen ausgelegt, ein
paar Pflanzen waren darin. Die kleinen, gelben Fische bewegten sich kaum, bis
einer plötzlich hochschoss und die Gruppe aufscheuchte.
„Hagen van Velzen, unser Weiberheld!“ Leonhard lachte. „Dabei war das alles nur
Fassade, der wäre doch gar nicht fähig gewesen zu so einer Tat.“
Clara konzentrierte sich auf die E-Mail. Leonhard hatte insgesamt sechs Dokumente
angehängt. Sie öffnete das erste. Es zeigte einen Lebenslauf von Hagen, auf dem
sich Margot handschriftliche Notizen gemacht hatte.
„Für so eine Tat muss man kein Supermann sein.“ Sie sprach hart, um das
komische Gefühl zu unterdrücken, das die vertraute Handschrift in ihr hervorrief.
„Das ist die Tat eines armseligen, kleinen Schwachkopfes.“
Clara öffnete das zweite Dokument. Es
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