Auserwaehlt
Leonhard war immerhin seit sieben Jahren Margots Sekretär.
„Und dann diese ekelhaft verzerrte Stimme ... Ich verstehe das nicht. Er hat
uns die Filme doch ... bewusst ... dagelassen, er will doch, dass wir es
sehen, dass wir es wissen ...“ Sie standen immer noch in dem Flur. „Da hätte er
sich doch nicht verstellen müssen.“
„Vielleicht baut er vor.“ Leonhard hängte ihre Jacke an ein Holzbrett mit vier
Haken, das an der Innenseite der Tür befestigt war. „Er weiß, dass die Filme
vor Gericht dadurch unbrauchbar sind.“
Clara nickte. Rebecca hatte dieselbe Vermutung geäußert.
Sie folgte ihm in das größere Zimmer. Obwohl er sich mittlerweile etwas anderes
leisten konnte, wohnte auch er noch immer in seiner Studentenbude. Es gab zwei
Zimmer, im kleineren stand das Bett und der Kleiderschrank, im größeren alles
andere. Clara ließ sich auf das Sofa fallen. Ein hellgrauer Überwurf aus grobem
Stoff lag über dem hässlichen Ding, von dem Clara befürchtete, Leonhards
Vormieter habe es einfach dagelassen.
„Kann ich ein Glas Wasser haben?“
„Klar.“
Leonhard verschwand in der Küche. Die Jalousie war halb heruntergelassen. Sie
hörte den Wasserhahn. An der Wand stand ein kleiner, rechteckiger Holztisch mit
zwei Stühlen. Er war bereits gedeckt.
„Danke.“ Clara nahm das Glas. „Dass Hagen dermaßen krank ist“, schüttelte sie
wieder den Kopf. „Ich kann das einfach nicht fassen.“
Ihr Blick glitt über das schwarze Regalsystem, den Fernseher, die Spielkonsole,
einen Haufen Computerspiele. Sie überlegte, ihr Handy zu checken, doch vor vier
Minuten gab es noch nichts Neues. Johannes würde sie um 10 zu Hause in
Kreuzberg abholen, wenn sie nichts mehr von ihm hörte.
„Wusstest du das? Margot hat Nachforschungen über Hagen angestellt! Und ich
dachte immer, sie vertraut ihm blind.“
Clara starrte Leonhard an. Die Worte waren regelrecht aus ihm heraus geplatzt.
„Ich habe Aufzeichnungen in ihrem Schreibtisch gefunden“, erläuterte er aufgeregt.
„Die sind eindeutig. Ich hab das alles eingescannt, ich habe es bereits an dich
und Reichenbaum verschickt, als pdf-Datei.“
„Wann?“
„So vor vierzig Minuten?“
Clara zog ihren Laptop aus der Tasche. „Hast du mir den WLAN-Schlüssel?“
„Sofort.“ Auch Leonhard erwachte jetzt aus seiner anfänglichen Versteinerung.
„Ich mach nur schnell das Essen fertig, dann gehen wir das zusammen durch. Du
musst etwas essen, Clara, sonst hältst du mir nicht durch.“
Er verschwand in der Küche. In der Ecke gegenüber stand ein weißer
Ikea-Schreibtisch, zwei Computer, ein Laptop, auf dem Boden ein 6-fach-Stecker,
Kabelgewirr. Leonhard hatte recht. Den ganzen Tag über hatte sie kaum etwas
gegessen. Sie musste aufpassen, dass sie nicht zusammenklappte.
„Margot muss etwas geahnt haben“, sagte er und kam mit einem Topf Spaghetti
zurück. Clara schob ein Buch beiseite, um Platz für das Essen zu schaffen.
„Sie hat Nachforschungen über Hagens Vater angestellt.“ Aus dem Topf stieg
Dampf auf. Leonhards Brille beschlug.
„Hagens Vater war ein hohes Tier bei der Stasi. Absolut unangreifbar. Nach 89
war er plötzlich ein Verbrecher, ein Loser. Er ist sofort zurückgetreten und in
Frührente gegangen, hat sich vollkommen zurückgezogen, dadurch wurde das in der
Presse nicht so publik.“
„Und die Mutter?“ Clara wusste das mit dem Vater. Margot hatte mir ihr darüber
gesprochen.
„Die Mutter?“ Leonhard putzte seine Brille mit dem unteren Teil des T-Shirts.
„Hagen hat mal erwähnt“, erinnerte sich Clara, „dass sie als Putzfrau gearbeitet
hat, um ihm das Studium zu finanzieren ...“
„Keine Ahnung.“ Er setzte die Brille wieder auf. „Hagen war bei der Nationalen
Volksarmee, hast du das gewusst? Erst nach der Wende hat er noch mal Abitur
gemacht und studiert.“ Er hatte vom Kochen Schweißperlen auf der Stirn. „Margot
hat das rot eingekreist: NVA.“
„Und weiter?“
„Wie weiter?“
„Du sagtest doch was von eindeutig.“
Leonhard schob sich eine Gabel Spaghetti in den Mund und begann zu kauen. Clara
blickte weg. Ein Poster hing an der Wand, eine rosa Lampe in Form eines
Salzkristalls stand in der Ecke, ein paar kleine, gelbe Fische schwammen in dem
Aquarium, das neben dem Sofa stand.
„Ich meine“, überlegte sie laut, „dass Hagen noch mal die Schulbank drückt und
studiert ist doch eher ... positiv.“
„Positiv?“ Entgeistert starrte Leonhard sie an. „Hagen wurde zum Faschopolizisten
und ... Mörder! Hast du das
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