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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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parallel
zu der Frage, wie es sein konnte, dass er sich in Hagen so getäuscht hatte. Er
kannte ihn seit über fünfzehn Jahren! Niemals hätte er gedacht, dass in Hagen
etwas schlummerte, das ...
„Thilmann?“
Rebecca. Sie trat zu ihm hinaus und blickte auf die Zigarette.
„Wir sind jetzt soweit fertig.“
Er nickte.
„Ich habe das mit der Staatsanwaltschaft geregelt. Der Haftbefehl ist draußen.“
Er sah sie an. „Danke.“
„Die Grenzbehörden und Flughäfen wissen Bescheid. Seit einer halben Stunde ist
das Foto draußen. Er kommt nicht raus.“
„Wenn er schon heute früh zum Flughafen ist, haben wir ihn verloren.“
Rebecca nahm die Zigarette, die er ihr anbot. Schweigend rauchten sie.
Auf der Fensterbank stand eine Glasvase, eine einzelne Blume mit einem dicken
Stängel war darin, der sich im oberen Drittel wie ein Korkenzieher empor
schraubte, etwas Orangenes mochte eine Blüte sein.
Als der Kollege heute Morgen um 10 Uhr 30 Hagen abholen wollten, war er bereits
nicht mehr in der Wohnung. Er war nicht auf dem Präsidium, er war nicht beim
Sport, sein Handy war aus. Hagen war geflüchtet. Hagen war geflüchtet! Wenn sie
Pech hatten, war er längst im Ausland.

50
    Die U-Bahn-Station war
mit graugrünen Fliesen ausgekleidet, so lieblos und regelmäßig, als sei den
Städteplanern die Kraft ausgegangen. Der Bahnhof Alt-Tempelhof zählte bereits
zu den Außenstationen der U6. Clara schloss die Augen, als die Bahn in den
grell erleuchteten Bahnhof einfuhr. Sie musste an die Pornos denken, die sie
mit Margot bei dem ermordeten Filmproduzenten im Grunewald gefunden hatten.
Wann war das noch mal? Letzten Oktober?
Weißt du noch, Margot? Die Filme spielten in einem gefliesten Kellerraum, der entweder als
Gegensatz zu der sexuellen Ausschweifung gedacht war oder die Trostlosigkeit
der Szenen bebildern sollte. Nachdem geklärt war, dass auch die beiden Frauen
über 18 Jahre alt waren, gingen die Filme zurück in die Erbmasse. Bei der männlichen
Hauptperson bestand, was das Alter betraf, kein Zweifel; es war der 74jährige
Tote selbst. Sein Sohn war damals sofort aus New York angereist, ein Rechtsanwalt,
dem Margot die Filme übergab. Es handele sich um ein noch unbekanntes
Meisterwerk seines Vaters, sagte Margot, worauf der junge Mann versicherte, der
Öffentlichkeit nichts vorenthalten zu wollen.
Bei der Erinnerung musste Clara lächeln. Die Katze war noch jung. Das Mädchen
im Abteil gegenüber transportierte sie in einer Box mit Gitterfenster.
Plötzlich schrie das Tier auf.
Margot? Clara gefiel die Vorstellung, Margot könnte wie in dem Film „Ghost“ noch in
ihrer Nähe sein. Deshalb achtete sie auf jedes Zeichen in ihrer Umgebung und,
sei es noch so fantastisch, auf das Verhalten von Katzen zum Beispiel oder auf
schwebende Münzen. Sie war nicht verrückt; sie wusste, irgendwann verlor sich
das wieder, bei Maria war das genau so gewesen.
Maria. Margot. Jetzt seid ihr also zu zweit. Clara begriff, dass die Zahl der Toten, die in unserer Erinnerung wohnten,
nicht limitiert war. Das Bild der legendären Tafelrunde des Königs Artus schob
sich in ihr Bewusstsein, gefolgt von dem erschreckenden Gedanken, dass manche
Autoren von 12, andere von 16, ja mittelalterliche Quellen sogar von 1600
Teilnehmern berichteten. Sie war sich plötzlich sicher, dass damit die Toten an
der Tafel der Erinnerung gemeint waren.
Clara beeilte sich, auszusteigen. Das Neonlicht schmerzte in ihren Augen.
Seitdem sich die Überfälle in Berliner U-Bahnhöfen mehrten, hatte man die
Beleuchtung hochgefahren. Im ganzen Bahnhof gab es keine dunklen Winkel mehr.
Das Licht war ein Zugeständnis an die Sicherheit und finanzielle Not Berlins,
war es doch die kostengünstigste Möglichkeit, potentielle Täter abzuschrecken.
Sogar die Wände und Böden blieben seitdem sauber, nirgends lag Müll, kein
einziges Graffiti zierte die Kacheln, und dennoch wirkte das Ganze schmutzig.
Clara senkte den Kopf und trottete einer Handvoll Menschen in Richtung Ausgang
hinterher.
Die Katze war auch ausgestiegen. Clara zwinkerte ihr zum Abschied zu. Im
gekachelten Zwischengeschoss lag eine leere Bierdose. Sie bewegte sich nicht.
Die Steintreppe, die nach oben führte, war eng und schmal und durch die Tritte
der Menschen verformt worden. Wie lange das wohl gedauert hatte? 50 Jahre? 90
Jahre? War es möglich, dass die Treppe noch aus den 20ern stammte? Clara fiel
die Zeit ein, die ein Vogel brauchte, um einen Berg abzutragen, wenn er einmal
im Jahr seinen

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