Auserwaehlt
Schnabel daran wetzte. Eine Ewigkeit. Solange würde man im
Fegefeuer schmoren, hatte der Pfarrer ihnen damals im Kommunionunterricht
eingebläut, ausnahmslos jeder, der eine Todsünde beging. Mord war damals nicht
das Thema. Meistens deutete der Geistliche in seinen Reden etwas an, das Clara
als Faulheit und Sex verstand. Doch er hatte ihr dabei immer zugezwinkert.
Clara stand an einer Kreuzung. Die blauen U-Bahn-Schilder über den Eingängen
zum Untergrund leuchteten bereits in der einsetzenden Dämmerung. Sie blickte
den Tempelhofer Damm hinab. Das Gebäude, in dem früher Woolworth war, war jetzt
ein entkerntes Skelett, gegenüber rissen sie Karstadt ab. Daneben wurde etwas
gebaut, etwas Zweigeschossiges aus Beton entstand.
Siehst du das, Margot? Liebes? Ist das einfach so? Das alte Bild vom Werden und Vergehen erschloss sich Clara plötzlich neu,
das Klischee entpuppte sich als etwas Bedeutendes. Plötzlich fühlte sie es: Das
Leben war vielleicht einfach so, es kam und ging. Clara ging weiter. In dem
Gedanken vom ewigen Kreislauf der Dinge fand sie zu ihrer eigenen Verwunderung
Trost. Sie wusste, auch das würde sich wieder verlieren. Sie stand noch unter
Schock.
Clara bog in eine Seitenstraße ab. Anders als in Charlottenburg oder Kreuzberg
prägten hier nicht einzelne Wohnhäuser das Straßenbild, sondern langgezogene
Wohnblocks mit alphabetisch nummerierten Eingängen. Die ganze Gegend wirkte
gedrückt, fand Clara, doch sie habe, seitdem der Flugbetrieb im Flughafen
Tempelhof eingestellt worden war, an Attraktivität gewonnen, sagte man. Das lag
nicht allein am Fluglärm, der jetzt wegfiel. Das stillgelegte Flughafengelände
war der Bevölkerung als Erholungsstätte zur Verfügung gestellt worden. An
heißen Tagen knallte dort die Sonne auf den Beton. Entlang der ehemaligen
Start- und Landebahnen gab es naturgemäß kaum Bäume, die Schatten spenden könnten,
ebenso führten die Rollbahnen stur geradeaus und provozierten die Blader,
Skater und Fahrradfahrer zu Höchstgeschwindigkeit. Trotzdem flanierten die
meisten Berliner begeistert über das Rollfeld und schwärmten, als sei ihnen ein
zweites Sanssouci geschenkt worden.
Clara erreichte eine Wohnanlage aus den 80ern, eine lange Reihe mit vier
Eingängen und ein paar Fenstern, alles wirkte gerecht verteilt. Der Eingangsbereich
war mit blauer Farbe optisch abgesetzt, der Rest war einmal hellgelb gewesen.
Sie steuerte auf eine der mittleren Türen zu. Eine ältere Dame kam heraus,
Clara hielt ihr die Tür auf und grüßte automatisch. Die Frau sah ihr prüfend
ins Gesicht, bevor sie mürrisch nickte. In dem Flur roch es nach Essen, die
kleinen Treppen waren mit PVC ausgelegt.
Die Klingel hatte einen unangenehmen Ton, als hupe ein Lastwagen.
Leonhard öffnete die Tür und begrüßte Clara mit dem traurigen, verwundeten
Blick eines Hundes, der sein Herrchen verloren hatte. Sie legte ihm die Hand
auf den Arm, so, wie Margot es immer getan hatte.
Schweigend trat sie in den schmalen Flur.
Es war jetzt kurz nach halb acht, um zehn war Clara mit Johannes verabredet,
gemeinsam wollten sie noch mal zu Margot nach Hause und die wenigen persönlichen
Dinge retten, die die Spurensicherung zurückgelassen hatte. Doch zuvor musste
Clara wissen, was Leonhard herausgefunden hatte. Er war seit gestern damit
beschäftigt, Margots Sachen im Büro auszumisten.
„Ich kann es einfach nicht fassen.“ Clara verfiel wieder in das Kopfschütteln
von Menschen, die versuchten, etwas ungeschehen zu machen. „Ich meine, Hagen!
Dass er so krank ist im Kopf, das ist so ...“ Clara stützte sich mit der Hand
gegen Wand. „Hast du die Filme gesehen?“
Leonhard nickte. Auch er wirkte einsam. Sie waren das Team von Margot Kranich,
doch ihr Tod hatte sie alle zu fernen Inseln gemacht.
Margot? Clara fuhr sich beiläufig über den Bauch. Es war unmöglich, dass
sie das Kind schon fühlte, doch etwas hatte sich bewegt.
Leonhard nahm ihr die Lederjacke ab. Sie sahen sich nur kurz an. Jeder zog sich
in sich zurück. Jeder glaubte, der Verlust träfe ihn am stärksten. Johannes und
Margot, zum Beispiel, waren seit über 30 Jahren befreundet, doch Clara erschien
das bedeutungslos im Vergleich zu der Nähe, die sie und Margot geteilt hatten.
„Aber dass er es auch noch auf Video aufgenommen hat, das ist so ekelhaft, so
geschmacklos, so ...“. Clara griff nach Leonhards Arm, diesmal drückte sie ihn
stärker, halb aus einer diffusen Angst heraus, halb aus dem Gefühl, ihn trösten
zu müssen.
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