Auserwaehlt
„Fünf Gänge,
fünf Sterne, fünf Stunden. Was meinst du?“
„Fünf Tage Kopfweh“, lachte sie. Teufel studierte ihr Lachen.
Der Ober nahm die Bestellung auf. Die Hauptkommissarin und der Rechtsmediziner
saßen in der Suarezstraße draußen bei einem Italiener, vor ihnen standen eine
Flasche Mineralwasser und ein Teller mit Bruschetta. Ein paar Topfpflanzen
schirmten sie notdürftig vom Verkehr ab, im Hintergrund rollten die Lastwagen
auf der Bismarckstraße vorbei.
„Vielleicht hat es auch mit dem Fall zu tun“, sagte Margot und ihre Stimme
klang wieder normal.
„Mit Helga Kramer?“
Sie nickte. „Sie geht mir nahe. Ich verstehe es selbst nicht.“
Er wusste, was sie meinte. Die Verbrechen, mit denen sie zu tun hatten, verfügten
über unterschiedliche Intensitätsgrade. Ein Toter konnte im eigentlichen Leben
des Ermittlers fast unbemerkt bleiben; oder er konnte dort Zerstörungen
anrichten, die keinen Stein auf dem anderen ließen. Das war nirgends
dokumentiert als in ihrem Gefühl. „1987: Krankenschwester ersticht fünf
Patienten.“ Ohne Zweifel war das damals eine große Sache, über Wochen die
Nummer eins in den Medien, Teufel und Kranich waren Tag und Nacht auf den
Beinen. Doch ihr Leben ging damals weiter wie zuvor. Wer gut drauf war, blieb
es. Wer sich Sorgen machte, machte sich Sorgen. Wer verliebt war, war verliebt.
So wie sie beide. Damals.
„Danke.“ Teufel nahm den Teller Pasta, den der Ober ihm reichte. Kranich hatte
sich für eine Pizza entschieden. Sie fand, sie hätte noch eine halbe Minute
länger im Steinofen vertragen.
„Clara hatte vielleicht recht.“
„Womit?“
„Es ist, als ob ...“ Kranich zögerte.
„Als ob was?“
„Als ob uns etwas bedroht.“
Teufel musterte sie über den Tellerrand hinweg.
Kranich ließ das Stück Pizza wieder sinken. „Klingt verrückt, was?“
Teufel legte sein Besteck weg. „Hast du Grund, dich bedroht zu fühlen?“
Kranich fuhr mit der Hand durch die Luft, als wollte sie eine Fliege verscheuchen.
Sie schob den Teller fort und wich seinem Blick aus.
Teufel nickte. „Na siehst du.“
Kranich beobachtete das Auto, das zum dritten Mal die Suarezstraße hoch und
runter fuhr. Es versuchte, in eine viel zu kleine Lücke einzuparken.
„Ich habe Angst vor dem Tod, Johannes.“
Eine Gabel klirrte. Zwischen Teufels Augenbrauen vertiefte sich eine Falte.
Sie sahen sich an.
„Warum magst du Hagen eigentlich nicht?“, fragte Margot.
Teufel ließ sich sein Erstaunen über die Wendung nicht anmerken. „Er ist ein
kalter Karrierist.“
„Ach komm, das ist doch ein Klischee.“
„Eben.“ Der Rechtsmediziner winkte dem Ober, bestellte zwei Espresso und war
froh, als er sofort kam. Er hatte noch einen Termin in der Charité. „Stimmt es
eigentlich, dass sein Vater ein hohes Tier bei der Stasi war?“
„Dafür kann er nichts.“ Margot starrte durch ihn durch. „Im Übrigen ist er bei
der Mutter aufgewachsen.“
„Du scheinst ja einen Narren an dem Jungen gefressen zu haben.“
Er schenkte das restliche Mineralwasser ein. Margot schwieg, doch ihr Gesicht
war für einen Moment heller geworden.
„Margot“. Er legte seine Hand auf ihre und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Gegen Altersschwermut gab es kein besseres Rezept. „Das ist jetzt nicht dein
Ernst?“
Ihr Handy klingelte und Teufel beobachtete erleichtert, dass sich jede Spur von
Schwermut aus Margots Gesicht verflüchtigt hatte.
„Wir haben sie!“ Ihre Augen glühten, als sie sich Teufel wieder zuwendete. „Die
haben die Handtasche in einem hohlen Baum deponiert, nicht weit vom Tatort.
Raul Malik und noch einer!“
16
Mörder haben keine gelben Augen, sagt man. Mörder finden
sich in allen gesellschaftlichen Schichten, heißt es. Denn es gibt ihn ja, den
gut situierten Juristen, der seine Frau ersticht, ebenso wie den obdachlosen
Junkie, der einen Rentner erschlägt. Es gibt sogar die Mutter, die ihr Kind
erstickt! Ebenso wie den pädophilen Lustmörder von nebenan. Hagen starrte auf den Bildschirm seines Laptops. Dann tippte er weiter.
Die Aussagen beruhen auf einer unzulässigen Vermengung zweier Statistiken. Er starrte wieder geradeaus.
In der Kriminologie unterscheidet man zwischen Beziehungs- und Zufallstaten.
Der Jurist und die Mutter gehören in die Kategorie der Beziehungstaten. Der
Jurist würde keine andere Frau als seine untreue Ehefrau erschlagen. Die verzweifelte
Mutter kein anderes Kind als ihr eigenes töten. Hagen lockerte seine Krawatte.
Dem Junkie oder Sadisten
Weitere Kostenlose Bücher