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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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Nachmittags wurde es unerträglich heiß im Präsidium, Klimaanlagen
existierten nicht. Er war froh, dass er das bald hinter sich hatte. In den USA
war Klimatisierung selbstverständlich.
Die grausamen Taten erwachsener Mörder sind in erster Linie, hierin ist sich
die Forschung einig, als Reinszenierungen der Schmerzen und Verletzungen zu
verstehen, die ihnen in der Kindheit zugefügt wurden. Alle Mörder der von mir
beschriebenen Kategorie sind zu Empathie vollkommen unfähig, da in ihnen nichts
ist, von dem sie auf andere schließen könnten. Die Vollzugsanstalten sind voll
mit solchen reduzierten Existenzen. Das einzige Gefühl, zu dem sie fähig sind,
liegt in der Umkehr ihrer Ohnmacht in Macht. Die Verwandlung eines Opfers in
einen Täter gehört wohl zu den schwer verständlichsten und dunkelsten Kapiteln
menschlicher Entwicklung. Es ist kaum nachvollziehbar, warum der Anblick des
Leidens, das man selbst einmal empfunden hat, Befriedigung verschafft. Hagen kniff die Augen zusammen.
Natürlich gilt es zu bedenken, darauf wird zu Recht immer wieder hingewiesen,
dass nicht jeder Mensch mit einer von Gewalt geprägten Kindheit zum Mörder wird
... Es klopfte. Leonhard blieb in der Tür stehen. „Ich soll Bescheid geben,
dass wir in zehn Minuten anfangen.“
„Danke.“ Hagen nickte. „Ich komme.“

17
    Der karge, in einem Braunton gestrichene Raum wurde von zwei
Neonröhren ausgeleuchtet. In der Mitte stand ein Tisch. Auf der einen Seite saß
Clara, auf der anderen ein Mann im schwarzen Kapuzenshirt: Marcel Heller, 22 Jahre,
Hartz-IV-Empfänger und unerreichbar wie eine Fliege in Bernstein. Über dem
Tisch war eine Kamera befestigt, das grüne Licht leuchtete.
„Okay.“ Clara blickte den jungen Mann an. „Ihr Bekannter, Raul Malik, hat also
die Handtasche gefunden. Sie wissen aber weder wann, noch wo. Ist das richtig?“
Sein Gesicht wirkte verquollen, als sei er eben erst aufgestanden.
„Woher haben Sie die Tasche?“ Clara lehnte sich zurück. Sie versuchte abermals,
dem Jungen in die Augen zu sehen, doch er starrte auf die Tischplatte. Er
stellte sich tot.
„Marcel?“
Sie sah in den riesigen Spiegel an der Längsseite, durch den Hagen und Kranich
das Gespräch verfolgten. Sie fragte sich wieder, warum man dazu auch
'Venezianischer Spiegel' sagte. Kam das Glas ursprünglich aus Venedig? Oder das
Spannen?
„Marcel, hör mir zu. Ich kann das gut verstehen, wenn man ein gefundenes
Portemonnaie nicht gleich bei der Polizei abgibt. Was ist schon dabei, wenn man
das Geld raus nimmt? Das macht doch jeder so.“
Claras Hände verkrampften sich. Es waren nicht die Schwerverbrecher, vor denen
sie am liebsten davonlaufen würde, sondern junge Männer wie dieser. Anfangs
waren sie meist nur Mitläufer und ohnmächtig, den zerstörerischen Kräften ihres
Lebens etwas entgegenzusetzen, unfähig, die Hilfe anzunehmen, die ihnen geboten
wurde. Irgendwann war es dann zu spät.
„Verstehst du nicht, was ich sage?“
Clara versuchte abermals, Blickkontakt aufzunehmen. Vergeblich.
„Eine Frau ist ermordet worden. Verdammt noch mal, wenn du nichts sagst,
wanderst du ins Gefängnis, ist dir das nicht klar?“
Sein Ohr war von unten bis oben mit Metall durchbohrt, dazwischen steckte eine
Sicherheitsnadel. Clara wollte das Gesicht vergessen, doch sie wusste, dass ihr
Hirn es längst gespeichert hatte. So wie die anderen Gesichter auch, Gesichter
von Menschen, die sie oft tagelang verhört hatten. Wenn Clara in den frühen
Morgenstunden wach im Bett lag und alles sich von der sorgenvolle Seite zeigte,
dann kehrten sie wieder, ungebetene Gäste ihres Lebens. Dann starrten sie sie
an, diese Gesichter, die vor Gleichgültigkeit ganz stumpf geworden waren, oder
noch schlimmer, die vor Dummheit und Hass glühten.
„Okay.“ Clara war müde. Sie rieb sich die Augen. „Sie haben gestern Nacht um 1
Uhr 12 an der Tankstelle Steglitzer Damm Zigaretten und Wodka gekauft. Sie
haben mit 100-Euro-Schein Schein bezahlt. Die Kamera hat das alles
aufgezeichnet. Und Sie wollen mir weismachen, sie haben das Portemonnaie nicht
angerührt?“
Er schob den Kiefer nach vorne. Etwas arbeitete in ihm. Wenigstens ein kleines
Zeichen.
„Verstehen Sie nicht, dass mir das Geld vollkommen egal ist?“
Der junge Mann verschränkte die Arme. Sie zitterten. Jetzt sah er sie an. Es
war der Blick eines Menschen, der nach Drogen verlangte, zumindest nach einer
Zigarette.
„Wollen Sie eine Zigarette?“ Clara gab ihnen meistens, was sie wollten. Die
Leute

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