Auserwaehlt
dass er wieder eine Chance verpasst habe.
18
Über vierzig Minuten war Clara die Bergmannstraße hoch und
runter gefahren, hatte die Gneisenaustraße abgeklappert, inklusive aller
Seitenstraßen und dem Mehringdammn. Über vierzig Minuten hatte es gedauert, bis
sie endlich in der Zossener Straße einen Parkplatz fand. Und das nach einem
solchen Tag! Sie hatte es so satt. Beinahe hätte sie noch eine Gruppe Teenager
überfahren, die in der Hauptstadt etwas erleben wollten, als hundert Meter vor
ihr ein Auto aus einer Lücke fuhr, die sich sofort wieder schloss.
Erschöpft stemmte sich Clara gegen die schwere Eingangstür, stieß sie auf und
durchquerte den schwarz-weiß gefliesten Flur des Vorderhauses. Die Briefkästen
waren aus mattem Gold. „Bitte keine Werbung einwerfen“, stand auf den meisten.
Clara schloss ihren Briefkasten auf, leerte ihn, trat in den Hinterhof hinaus
und schmiss die Werbeprospekte in die Papiertonne. Irgendwo spielte jemand
Musik. Ein Mann mit einer durchdringenden Bassstimme telefonierte. Clara
öffnete die Tür zum Seitenflügel, die nicht einmal halb so groß war wie die
vordere Eingangstür, als verkleinerten sich die Menschen, wenn sie hier ankamen.
Sie zog den Kopf ein. Ihre Wohnung lag ganz oben in der vierten Etage, es gab
keinen Aufzug.
Der Typ aus der ersten Etage hatte mal wieder vergessen, seinen Müllbeutel
runter zu tragen. Regelmäßig benutzte er den Flur als Zwischenlager, das Ungeziefer
würde kommen, die Ratten, Mäuse, Clara konnte solche Leute nicht verstehen,
doch was sollte sie tun? Klingeln? Den Typen zurechtweisen? Sie ging weiter.
Auf der Treppe von der zweiten zur dritten Etage waren noch immer zwei goldene
Stangen lose, die den Läufer auf den Stufen halten sollten, obwohl Frau
Kiontke, die in der dritten Etage wohnte, es der Hausverwaltung längst gemeldet
hatte. Immer wenn Clara Frau Kiontke traf, sprachen sie darüber, wie schade es
war, dass die Hausmeisterwohnung nicht mehr besetzt war. Dann wäre das sofort
repariert worden.
Plötzlich blieb Clara stehen. Es waren nur noch zwei Absätze bis zu ihrer
Wohnung, doch etwas stimmte nicht. Sie horchte. Alles war still.
Maria? Clara stützte sich auf das Geländer. Sie wusste nicht warum, doch etwas in
ihr war aus dem Gleichgewicht geraten. Plötzlich spürte sie das dunkle, schwere
Wasser wieder, das sich in ihrer Lunge ausbreitete. Sie schloss die Augen. Sie
war nicht darauf vorbereitet gewesen.
Eines Tages musste es ja so kommen. Sie hörte das helle Lachen so deutlich, als stünde sie neben ihr.
Maria. Wo bist du? Sie fühlte den geschmeidigen Körper wie damals, als sie zusammen über den
Kudamm flanierten. Sie sah ihr Gesicht, das schöne Schneewittchen-Gesicht mit
den klaren Linien, ein Gesicht, das sich nicht um das Alter sorgen musste.
Maria würde keine einzige Falte bekommen. Maria war seit drei Jahren tot.
Wie geht es dir, Liebes? Etwas knackte. Außer ihr war noch jemand im Treppenhaus, jetzt war sie sich
sicher. Doch das war nicht Maria.
Clara griff nach ihrer Waffe in der Lederjacke. Sie ging weiter nach oben. Doch
auf dem nächsten Treppenabsatz blieb sie wie versteinert stehen. Der Mann, der
vor ihrer Wohnungstür saß, hob beide Hände in die Luft.
„David!“
„Clara.“
Clara ließ die Waffe sinken. Sie sahen sich an, unfähig, zu sprechen oder sich
zu bewegen.
Kriminalhauptkommissar David Mayer hatte die Ermittlungen im Fall Maria Adler
geleitet. Er war es gewesen, der Clara die Todesnachricht überbracht hatte. „Es
tut mir leid, aber ihre Freundin Maria wurde heute Morgen tot im Landwehrkanal
gefunden.“ Während der Ermittlungen waren sich Clara und David dann „näher
gekommen“, wie Clara es Kranich gegenüber formuliert hatte.
Näher gekommen ... Niemand war Clara jemals so nahe gekommen wie David in dem Moment, als er
ihr das Leben gerettet hatte. Von da an schien alles – ihre Liebe, ihr gemeinsames
Leben, die gemeinsame Wohnung – nur noch eine Frage der Organisation zu sein.
Das Schicksal hatte sie zueinander geführt und es war an ihnen gewesen, etwas
daraus zu machen.
„David?“
David saß auf der obersten Stufe. Clara berührte seine Hand.
Sie hatten es vermasselt. David erhob sich und versuchte, sie zu umarmen, doch Clara entzog sich. Es
kam ihr falsch vor. Sie schloss die Tür auf und bedeutete ihm, einzutreten.
„Setz dich“, sagte sie und wies auf das Sofa im Wohnzimmer. Sie holte zwei
Gläser aus der Küche, eine Flasche Rotwein und kramte solange in der
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