Auserwaehlt
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Platz.
„Gestern, sagen sie.“ Der Mann lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Seit der
Provider das macht, muss man sich einer ziemlich nervigen Anmeldeprozedur
unterziehen, um ins Netz zu kommen. Die speichern da auch Daten. Fragen Sie
doch da mal nach. Wenn es erst gestern war, haben sie gute Chancen.“
„Und Sie selbst haben keine ... Daten?“
„Wir haben ein paar registrierte Mitglieder, die für einen Monatsbeitrag auch
die Büros hier oben nutzen. Im Vergleich zu dem laufenden Geschäft macht das
aber höchstens fünf Prozent meiner Gäste aus.“
„Wann öffnet das Café?“ Kranich schob ihre leere Tasse zur Seite. „Der Kaffee
ist übrigens vorzüglich.“
„Danke.“ Er beobachtete Clara, die wie eine Statue dasaß, die Beine übereinandergeschlagen,
die Espresso-Tasse in der Hand. „Um acht. An Sonn- und Feiertagen erst um
neun.“
„Vielleicht hilft uns das weiter“, sagte Kranich an Clara gewandt. „Der Mann,
den wir suchen, muss also unter den ersten Gästen am Morgen gewesen sein.
Vielleicht kann sich eine der Bedienungen an ihn erinnern?“
Er überlegte. „Und der soll also ein Mörder sein?“
Clara drehte sich langsam dem Mann zu. Der sah sie fragend an.
„Was hat er denn getan, der Mörder?“
Morgen würde er es ohnehin wissen. Vielleicht schon heute Abend. Er würde vor
einem seiner Apple-Bildschirme sitzen und von dem „Auserwählten“ lesen, der
seinen Opfer per E-Mail den eigenen Tod ankündigte.
„Er hat zwei Frauen getötet“, sagte Clara und ging wieder ans Fenster.
„Sie wissen, dass hier früher schon Franz Biberkopf sein Bier getrunken hat?“,
sagte der Mann erfreut. „In eben diesem Eckhaus, hier.“
„Ja.“ Claras dunkle Silhouette zeichnete sich vor dem Fenster ab. Sie drückte
ihr Kreuz durch und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. „Nachdem er
seine Freundin erschlagen hat.“
„Ida, richtig.“
„Wir brauchen die Adresse des Providers“, beendete Kranich das Geplänkel. „Wir
brauchen die Namen der Leute, die am 6. Juni und am 24. August Schicht hatten.“
Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. „Okay okay. Ich schick Anni
gleich hoch.“
Fünf Minuten später erschien die Frau mit den dunklen Augenringen. Wieder
stellte Clara fest, dass sie zugleich fertig und gut aussah, und wahrscheinlich
träumte sie davon, irgendwann einmal einen eigenen Club oder ein eigenes
Restaurant zu eröffnen.
„Ihr wollt wissen, wer gestern Morgen hier war?“ Ihre Hände gestikulierten
schnell.
„Können Sie sich daran erinnern?“
„Natürlich“, sagte sie, ging zu der kleinen, gelben Kaffeemaschine und ließ
sich einen Espresso heraus. „Richtig voll wird es in der Regel erst gegen
neun.“ Sie kippte das Zeug in einem Zug herunter. „Punkt Acht stehen immer die
gleichen Typen vor der Tür. Das ist Kai, der schreibt an seiner Magisterarbeit
in Politologie, dann Phil, ein Musiker aus England, und dann ist da noch so
eine Chinesin, die nicht viel sagt.“
Kranich sah die junge Frau erstaunt an. „Die Nachnamen der Herrschaften wissen
Sie zufällig nicht auch noch?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich kann Sie aber gleich zu Ihnen bringen“, sagte sie. „Die sitzen alle noch
unten.“
29
Die Frau hielt sich mühsam aufrecht. Sie wirkte verlassen
wie ein Haus, das bereits evakuiert worden war. Ihr Zusammenbruch würde nicht
mehr lange auf sich warten lassen.
„Sind Sie Judy Anspach?“ Kranich ließ ihren Dienstausweis dieses Mal stecken.
„Dürfen wir hereinkommen?“
Sie nickte nur. Sie trug ein einfaches weißes Seidenkleid, ihre Haut war blass,
die Füße barfuß. Sie hatte feine, aristokratische Züge und eine hohe Stirn, die
wie polierter Marmor glänzte. Die blonden Haare waren zu einem hohen Pferdeschwanz
zusammengenommen. Sie war nicht geschminkt. Ihre Augenränder waren gerötet.
Ohne sich noch einmal nach den Kriminalbeamtinnen umzusehen, ging sie den Flur
entlang und verschwand in einem Zimmer. Kranich und Clara folgten ihr. An der
Wand hing ein Kind und blickte den Betrachter abwesend und zugleich direkt an,
es war von Picasso und hatte einen Blumenkranz im Haar. „Für Judy“, stand
darauf. „Von Stella.“
Clara ging weiter.
Für eine Studentin wohnte Judy Anspach luxuriös. Die Altbauwohnung in einer
Seitenstraße des Kurfürstendamms schien mindestens drei Zimmer zu haben und war
in einem Top-Zustand. Clara hatte ganz vergessen, dass ein Parkettboden so
aussehen konnte, glatt, fest, eben. Das Ganze kostete locker
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