Auserwaehlt
gemacht, er hat einfach nicht
kapiert, dass sie vor dem Staatsexamen nicht den ganzen Tag mit ihm rum hängen
kann. Sie haben sich dann noch ein zweimal getroffen, aber mehr war da nicht.“
Kranich räusperte sich. „Denken Sie, er könnte Stella das angetan haben? Aus
Eifersucht? Um sich zu rächen?“
Judy schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall.“
„Und außer Adrian gab es da noch jemand in Stellas Leben?“, fragte Kranich
weiter.
Ein wehmütiges Lächeln erschien auf Judys Gesicht. „Ich kann Ihnen auf der
Stelle fünfzehn Namen nennen, alles Männer, die seit Jahren darauf warten, endlich
ein Date mit Stella zu haben. Stella kann jeden haben. Stella ist ein Magnet.
Es gibt keinen Abend, wenn wir irgendwo sitzen, an dem nicht irgendein Typ sie
anmacht.“
Clara seufzte. Stella kann nicht, sie konnte. Stella ist nicht, sie war.
„War das nicht schwer für Sie?“, fragte Kranich. „Gab es da keine Eifersucht?“
Judy sah Kranich an, als habe sie nach ihrer Körbchengröße gefragt.
„Sie meinen, ob ich eifersüchtig bin?“ wiederholte sie verwundert.
Sie war es nicht. Mann konnte es sehen. Margot hätte sich die Frage sparen
könne, doch Margot traute blassen Frauen in weißen Seidenkleidern nicht.
„Nein“, sagte Judy leise. „Stella und ich, wir haben uns ... ergänzt. Wissen
Sie, ich bin gerne für mich allein, ich sitze auch gerne im Elfenbeinturm und
ich habe kein Problem damit. Aber trotzdem braucht man jemanden, mit dem man ab
und zu ausbrechen kann, mit dem man einfach ... lebt.“
Judy starrte vor sich hin. „Stella war so lebendig, das war ihr Geheimnis. Sie
war meine Verbindung zum Leben, ich weiß nicht, wie ich es anders sagen kann,
verstehen Sie, was ich meine?“
Clara schluckte. Judy hatte einfach zur Vergangenheitsform gewechselt und es
klang, als habe sie selbst mit dem Leben abgeschlossen.
„Moment.“ Judy sah jetzt Kranich an. „Herr von Bödefeld!“
Und dann: „O mein Gott.“ Sie schlug beide Hände vors Gesicht.
„Stella hat gestern von einer Mail erzählt, ein Virus oder so. Es kam ihr komisch
vor und sie meinte, Herr von Bödefeld könnte das vielleicht geschickt haben.“
Kranich sah verwirrt auf. „Herr von Bödefeld?“
„Der Vogel aus der Sesamstraße“, nickte Clara. Kranich sah sie an, als sei sie
verrückt geworden.
„Der Typ hat genau so gesprochen! Wie Herr von Bödefeld.“ Judy wandte sich
wieder an Clara. „Dasselbe arrogante Genäsel und so.“
„Wissen Sie sonst noch etwas von ihm?“, fragte Clara. „Wie heißt er wirklich?“
„Er ist auch Jurist.“ Judy zupfte sich eine Haarsträhne heraus. „Er hängt fast
täglich in der Stabi rum. Ich glaube, der Vorname ist Lars oder so.“
„Warum dachte Frau Krefeld, dass er ihr die Mail geschickt hat?“ Kranich erhob
sich. Sie ging sie an dem Bücherregal vorbei, das zu zwei Dritteln mit juristischer
Literatur gefüllt war. Das andere schienen Science Fiction-Romane zu sein.
Clara war froh, dass Margot heute schwarze Socken trug.
„Ich weiß nicht“, sagte Judy leise. „Weil er sie anmachen wollte?“
„Hat Stella sich bedroht gefühlt?“, fragte Clara.
„Stella?“ Judy sah amüsiert aus. „Stella hatte keine Angst. Sie hatte
eigentlich nie Angst. Stella hatte so eine Ausstrahlung, als könnte ihr nie etwas
passieren, als sei sie ... unsterblich.“
Es klingelte an der Tür.
„Das ist meine Mutter.“ Judy sprang auf. Ihre nackten Füße wurden auf dem
Parkett immer schneller. Kurz darauf war ein Wimmern zu hören, dann ein lauter
Knall. Clara zog es den Magen zusammen. Sie drückte mit der Hand auf den Bauch.
Bis du wirklich da? Kranich und Clara blickten den Flur hinunter. Die Wohnungstür stand noch
offen. Der Koffer stand noch draußen auf dem Flur. Die ältere Frau hatte ihre
Handtasche auf das Parkett fallen lassen. Sie hatte beide Hände damit zu tun,
ihre Tochter festzuhalten, die sich krümmte, als müsse sie sich übergeben. Als
Clara der Dame ins Gesicht sah, liefen Tränen über das sorgfältig aufgetragene
Make-up.
30
Johannes Teufel stand in dem gläsernen Lift und fuhr die
drei Stockwerke zu seiner Wohnung nach oben. Er ließ den Schlüssel in die Tür
gleiten und trat ein. Es war Samstagabend, kurz nach neun. Das Wohnzimmer war
leer, der Esstisch abgeräumt. Trotzdem wusste er sofort, dass Susanne zu Hause
war. Es musste am Geruch oder an der Wärme liegen. Die Uhr tickte. Seine Mutter
lächelte von dem Foto herab. Auf der Schwarz-Weiß-Aufnahme sah sie aus wie
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