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Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
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1000 Euro kalt,
schätzte Clara.
„Denken Sie, ich kann Stella noch mal sehen?“ Judy saß im Schneidersitz auf
einem grauen Sofa. Neben ihr lag ein großer Kopfhörer. Ein Aschenbecher stand
auf der Lehne. Das Fenster war geöffnet.
„Wo ist sie jetzt eigentlich?“
„In der Gerichtsmedizin.“ Kranich zog ihre Turnschuhe aus, bevor sie das Zimmer
mit dem weißen Teppich betrat, der nach Schaf aussah. Nachdem Judy ihr keinen
Platz anbot, setzte sich Kranich auf das Fell. Clara blieb auf der Schwelle
stehen.
„Überlegen Sie es sich gut, ob sie ihre Freundin noch mal sehen wollen. Manche
Leute haben mir danach gesagt, dass es ein Fehler gewesen sei. Andere waren
froh darüber.“
„Ist sie arg entstellt?“ Judy zündete sich eine Zigarette an. „Niemand hat mir
gesagt, was eigentlich genau passiert ist.“ Sie senkte den Blick.
„Bitte, die Bilder bringen mich um, verstehen Sie das? Sagen Sie mir, was
passiert ist, ich muss es wissen. Ist sie vergewaltigt worden?“ Ihre Worte waren
bewegt, doch in ihrem Gesicht regte sich nichts. „Hat ihr jemand die Kehle
durchgeschnitten? Ist sie erstickt? Geprügelt worden? Es macht mich wahnsinnig,
verstehen Sie das?“
Natürlich. Clara hätte sie gern in den Arm genommen, aber meistens ging
das daneben.
„Ihre Freundin ist nicht vergewaltigt worden, das ist sicher“, sagte Clara.
Judy sog jedes ihrer Worte dankbar ein. Der Teppich, ihr Gesicht und die Luft
waren weiß. In dem dunklen Kleid kam Clara sich wie ein schwarzes Loch im
Universum vor. „Außer einer Platzwunde auf der Stirn und einem kaputten Knie
hat sie keine nennenswerten Verletzungen, das heißt, sie ist mit Sicherheit
auch nicht gefoltert worden.“
Zumindest nicht körperlich. „Gestorben ist sie letztlich an einem Herzstillstand. Der Täter hat ihr
eine Giftmischung in den Oberarm injiziert, an der sie gestorben ist.“
Judy saß einfach nur da. Die Zigarette brannte in dem gläsernen Aschenbecher
herunter.
„Ich verstehe das nicht.“ Über ihrem Mund bemerkte Clara rote Flecken. „Was
wollte er von ihr?“
„Frau Anspach“, räusperte sich Kranich auf dem Lammfell. „Genau deshalb sind
wir hier. Wir wollen herausfinden, warum der Täter ausgerechnet ihre Freundin
Stella ...“, sie biss sich auf die Lippen, „ausgewählt hat.“
Von draußen drang Lachen herein. „Wir haben ein paar Fragen. Fühlen Sie sich in
der Lage, sich mit uns zu unterhalten?“
Judy nickte. Sie drückte die Zigarette aus und zündete sich eine neue an.
„Sie waren gestern fast den ganzen Tag mit ihrer Freundin in der Staatsbibliothek
an der Potsdamer Straße, um sich auf ein Examen vorzubereiten. Könnten Sie uns
noch mal den Tagesablauf schildern?“
„Als ich um halb zehn ankam, war Stella schon an ihrem Platz. Sie sitzt immer
auf demselben Platz, ganz rechts über der alten Lesesaal-Ausgabe auf der Galerie.
Wir sind dann kurz in die Cafeteria und haben einen Kaffee getrunken. Um 13 Uhr
sind wir raus zur Mittagspause, zurzeit gehen wir immer zu einem Bio-Imbiss
unten an der Potsdamer Straße. Kurz nach 6 bin ich dann nach Hause, ich musste
noch einkaufen. Um halb zehn wollten wir uns wie jeden Abend im Schleusenkrug
auf ein Bier treffen.“
„Wie jeden Abend? Machen sie das immer so?“
„Seit drei Monaten“, bestätigte Judy. „Das Bier am Abend ist der einzige Luxus,
den wir uns noch gönnen. Seit Wochen leben wir wie die Mönche, lernen,
schlafen, lernen, schlafen. Stella sagt immer, das ist ...“
Es sah aus, als versuchte sie sich an die Worte der Freundin zu erinnern. In
Wahrheit stand sie vor einem Abgrund.
„War gestern irgendetwas anders als sonst?“ Kranich wirkte konzentriert. „Hat
Euch jemand verfolgt? Hat Euch jemand angesprochen? Bei dem Imbiss, zum
Beispiel? Oder hat Euch jemand nach dem Weg gefragt?“
Judy schien nachzudenken.
„Jedes Detail kann wichtig sein.“
Judys Zigarette war abermals im Aschenbecher runtergebrannt. Wieder drückte sie
sie aus. Wieder griff sie nach dem Päckchen, um eine neue herauszunehmen.
„Morgens“, sagte sie gedehnt, „beim Kaffeetrinken hat sich so eine Asiatin
direkt neben uns auf das Sofa gesetzt. Sie hat uns die ganze Zeit über zugehört.
Daran erinnere ich mich.“
„Ist das ungewöhnlich?“
„Wenn alles frei ist, eigentlich schon. Ich würde mich niemals so nah zu jemand
setzen, den ich nicht kenne.“
Eine Asiatin? Eine Chinesin? Kranich nickte. „Hatte Stella eigentlich einen Freund?“
„Sie hat vor drei Monaten mit Adrian Schluss

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