Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auserwaehlt

Auserwaehlt

Titel: Auserwaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Nowak
Vom Netzwerk:
die Arbeit sinnlos war, doch er tat sie trotzdem.
Sein Blick wechselte zwischen dem Fax und dem Bildschirm hin und her, schnell
und präzise wie die Nadel einer Nähmaschine. Ihm war heiß, doch er wusste
nicht, was er noch ausziehen konnte. Er trug ein graues T-Shirt und seine
Lieblingsjeans. Er mochte es nicht, wenn Männer in kurzen Hosen herumliefen. Tim
Ellenkamp. Er stockte.
Tim Ellenkamp? Adrenalin schoss ihm durch die Adern. Er nahm einen neonfarbenen
Textmarker, den gelben, und markierte den Namen auf dem Fax. Dann hielt er die
Papierliste direkt neben den Bildschirm. Tatsächlich: Tim Ellenkamp. Leonhard
blickte sich um. Draußen waren Schritte zu hören. In dem Streifen Sonne, der
ins Büro fiel, flimmerte der Staub. Leonhard trommelte leise auf den
Schreibtisch.
Leonhard Kirchner öffnete mehrere Fenster auf seinem Computer. Er startete die
internen und die öffentlichen Suchmaschinen. Tim Ellenkamp, gab er in
beide ein und starrte mit klopfendem Herzen auf die Treffer. Der Mann war 36
Jahre alt, wohnte in Berlin Mitte, er war über zehn Jahre als Student der Theologie
an der Freien Universität immatrikuliert gewesen, seit vier Jahren war er
Hartz-IV-Empfänger und vor ein paar Monaten im Zusammenhang mit irgendeiner
Aktion religiöser Fanatiker auf dem Potsdamer Platz festgenommen worden, die
dort kostenlose Koran-Exemplare verteilt hatten. Obwohl Tim Ellenkamp dieser
radikalen Gruppierung nicht angehörte, hatte er eine Passantin tätlich attackiert,
die sich über die Männer lustig gemacht hatte. Er fühlte sich „einfach spontan
berufen zur Verteidigung der Männer Gottes“, sagte er aus. Leonhard las weiter: Konfrontiert mit den Zielen und der extremistischen Ideologie des
Salafismus, der als ein Sammelbecken für gewaltbereite Islamisten gilt und vom
Verfassungsschutz beobachtet wird, sagte er zudem aus, dass ...
Leonhard starrte auf das Foto. Es ärgerte ihn, dass der Mann eine Nickelbrille
trug, die seiner nicht unähnlich war. Er wollte mit solchen Spinnern nichts zu
tun haben.
Tim Ellenkamp war der Sohn einer Krankenschwester und eines Ingenieurs. Er
schien seine Tage damit zu verbringen, in verschiedenen Internet-Foren
Kommentare zu schreiben. Leonhard überflog die Ergebnisliste. Es waren weit
über hundert Texte, die er mit dem Kürzel TR und SANTO publiziert hatte.
Leonhard klickte einzelne Beiträge an und las mit zunehmender Wut. Die langen,
gedrechselten Sätze waren nur schwer zu verstehen, sie brachen immer wieder ab
und waren gespickt mit Zitaten, bei denen die Urheber unkenntlich gemacht
worden waren. Inhaltlich ging es immer wieder um Ungerechtigkeit, um Kapitalismus,
um eine neue Weltordnung, um Politik, aber auch um Aktuelles und Kulturgeschehen.
Leonhard massierte sich den Schädel. Das ganze Geschwafel war kaum zu
verstehen. Trotzdem sprach es eine deutliche Sprache. Es war die Sprache eines
Schläfers.
So nannten sie die Personen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Zukunft
eine Gewalttat begehen würden. Wenn sie erwachten.
Männlich, um die 40, kleinbürgerliche Verhältnisse, ohne echte familiäre Bindung,
narzisstische Persönlichkeitsstörung, Loser-Gefühle ... Frauenhass. Hagens
Worte hatten sich Leonhard eingebrannt. Sie trafen alle zu.
Tim Ellenkamp. Der Mann war vorbestraft, er war wegen Körperverletzung zu einer
Bewährungsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden. Er hatte im selben ICE
wie Helga Kramer gesessen. Er war mit Stella Krefeld in der Staatsbibliothek
gewesen. Der Mann war so gut wie überführt.
Leonhard blickte auf die Uhr. Die nächste Besprechung war heute Abend. Bis
dahin musste er alles aufbereitet haben. Kranich und Clara würden schauen, wenn
er es dieses Mal war, der maßgeblich zur Auflösung eines Falls beitragen würde.

28
    Vom Osten her stieß die Torstraße vierspurig in den
Rosenthaler Platz, auf dem mittleren Grünstreifen holte die Tram noch einmal
Luft, bevor sie sich in das Gewühl der Straßen stürzte. Clara musste sich
konzentrieren, um den schwarzen Audi durch das Chaos zu manövrieren. Auf dem
Asphalt waren gestrichelte Linien, weiße und gelbe. Ein Auto hupte. Knapp
hinter ihr ratterte eine Tram vorbei. Eine Ampel sprang auf Rot. Clara bremste.
Es wunderte sie nicht, dass auf keinem anderen Platz Berlins so viele Fußgänger
von Trams überfahren wurden wie hier. Rosen gab es hier keine. Früher stand
hier wohl ein Tor, von dem aus eine Straße in Richtung der Ortschaft Rosenthal
führte, daher der Name. Es war das Tor

Weitere Kostenlose Bücher