Auserwaehlt
trage eine Pistole und
...“
Sie hatte den Faden verloren.
„Und Sie meinen, das ist keine Welt, in der ein Kind groß werden sollte?“ Die
Ärztin trug ihre dunkelrot gefärbten Haare streng nach hinten gebunden. Clara
mochte ihr kluges Gesicht.
Clara nickte entschieden, obwohl sie daran noch gar nicht gedacht hatte.
„Und der Vater?“, fragte Blumenfeld vorsichtig.
„Der Vater.“ Clara sprach das Wort aus, als wüsste sie nicht, was es bedeutete.
„Ich habe keine Ahnung.“
„Sie wissen nicht, wer der Vater ist?“ Falls sie erstaunt war, ließ Blumenfeld
sich nichts anmerken.
„Doch, natürlich“, versicherte Clara schnell. „Ich meine, ich weiß nicht, was
er dazu sagen würde. Wir haben keine, wie soll ich sagen, wir führen keine
Beziehung in dem Sinne von ...“
„Haben Sie sonst jemand, der sie unterstützt? Eltern? Geschwister?“
Claras Gesicht hellte sich für einen Moment auf. Ihre Mutter würde sich freuen.
Ihr Vater mit Sicherheit auch.
Clara schüttelte den Kopf. „Meine Eltern wohnen in Süddeutschland“, sagte sie
dann.
„Ganz unten“, fügte sie hinzu und blickte auf ihre Schuhe. Der rechte Absatz
war abgelaufen.
„Wissen Sie was?“ Blumenfeld lächelte. Sie schob ein Ultraschallbild zu Clara
über den Schreibtisch. „Wenn ich sie so ansehe, denke ich, sie schaffen das.“
Clara biss sich auf die Lippe.
Draußen hupte ein Lastwagen.
„Lassen Sie sich Zeit“, sagte Blumenfeld. „Denken Sie in Ruhe drüber nach.
Überstürzen Sie nichts.“
Clara versuchte, zu lächeln. Sie hielt das Bild in Händen.
„Brauchen Sie eine Beratungsstelle?“ hörte sie Blumenfeld wieder.
Clara schüttelte den Kopf. In den dunklen Löchern, die auf sie gerichtet waren,
meinte sie, die Augen zu erkennen.
„Sie sind bald 37, Frau Schwarzenbach, das ist vielleicht ihre letzte Chance.“
Clara war erst vor zwei Monaten 36 geworden. Sie knetete ihre Hände. In diesem
Augenblick verfluchte sie es, eine Frau zu sein.
27
Leonhard sammelte die restlichen Wasserflaschen ein. Obwohl
jeder wusste, dass die leeren Flaschen in den Kasten in der Küche gehörten,
blieben immer ein paar zurück. Das war normal. Leonhard hatte die Jalousien
heruntergelassen, das Licht fiel in Streifen auf den Boden.
Das Fax ratterte.
Auf seinem Schreibtisch lag ein angefangenes Brötchen. Salami. Er hatte keine
Lust gehabt, mit den anderen Mittagessen zu gehen. Small Talk war nicht so sein
Ding. Er verstand nicht, wie man nach so einem Mord einfach über irgendwelche
Filme reden konnte, über das Wetter oder sonst einen Klatsch. Klatsch
interessierte ihn nicht.
Er zog das Fax aus dem Gerät. Endlich! Es kam von der Deutschen Bahn. Es war
die Liste mit den Sitzplatzreservierungen.
Leonhard schenkte sich noch einen Kaffee ein und setzte sich wieder an den
Schreibtisch. Am 6. Juli, an dem Tag, an dem Helga Kramer ermordet worden war,
hatten 253 Personen einen Platz im ICE 1604 von München Hbf nach Hamburg-Altona
gebucht. Für den Streckenabschnitt Leipzig – Berlin waren es 57 Personen. Der
Name von Helga Kramer stand auch auf der Liste. Er nahm einen Schluck Kaffee.
Helga Kramer, die Frau, die „einem gewöhnlichen Raubüberfall zum Opfer gefallen
schien“, der doch „in Wahrheit den Auftakt zu einer grausamen Mordserie“
bildete, die „ganz Berlin erschüttert.“ „Wird der Mörder wieder zuschlagen?“ Er
sah die Schlagzeilen schon vor sich. Ab morgen würde die Berliner Bevölkerung
kopfstehen und er konnte spüren, wie der Druck auf das Ermittlerteam stündlich
anstieg.
Leonhard wandte sich seinem Computer zu und öffnete das E-Mail-Programm. Auch
Sebastian schien über Mittag zu arbeiten. Vor fünf Minuten hatte er ihm eine
E-Mail der Staatsbibliothek weitergeleitet. „Anbei die Namen“, schrieb er. Mehr
nicht. Leonhard öffnete das Excel-Dokument und brauchte einen Moment, bevor er
begriff, dass das die Liste der Personen war, die gestern ein Medium in der
Staatsbibliothek Potsdamer Straße entliehen hatten. Es waren 287 Personen.
Jetzt musste er also nur noch die 57 Namen aus dem ICE mit den 287 Namen aus
der Bibliothek vergleichen, mühsam, Name für Name, in der Hoffnung, dass einer
doppelt vorkam. Als wäre der Mörder wirklich so dumm, solch offensichtliche
Spuren zu hinterlassen. Niemand, der einen Mord plante, würde einen Sitzplatz
im selben Zug wie das Opfer reservieren, noch dazu online, damit sie gleich den
Namen und die Adresse hatten. Dasselbe galt für die Bibliotheksausleihe.
Leonhard wusste, dass
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