Auserwaehlt
...
Sie schrie. Ihr Puls raste nach oben. Das war unmöglich. Das war doch vollkommen
unmöglich. Was soll das? Auf ihrem Rechner hatte sich ein rotes Fenster
geöffnet. „Ich bin auserwählt“, stand darin.
Hatte ihr etwa jemand das Beweisstück per E-Mail weitergeleitet? Aber sie hatte
die E-Mails doch noch gar nicht geöffnet, nur abgerufen.
„Ich bin auserwählt“. Sie starrte darauf. Ein Windstoß streifte ihre Hand.
Er warnt seine Opfer vor. Das ist kein normaler Virus, das ist eine Todesdrohung.
Das waren ihre eigenen Worte, doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie
auf sie selbst zutreffen könnten. Irgendjemand musste ihr das aus Versehen
installiert haben, sagte sie sich.
Kranich stellte den Rechner auf den Tisch zurück, ungeschickt, fahrig. Verdammt!
Sie fluchte, um nicht abermals zu schreien. Ihre Hand war rot. Sie hatte das
Weinglas umgestoßen.
Ganz ruhig, Mädchen. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sie sich, was sie
zuerst tun sollte: die Fenster schließen oder ihre Dienstpistole holen. Sie entschied
sich für die Pistole. Als sie aus dem Flur zurück ins Wohnzimmer kam, blieb sie
stehen. Sie hielt inne. Sie lauschte.
Plötzlich wusste sie, was nicht stimmte. Es war die Stille.
Sie drehte den Kopf zum Käfig. Die Stange war leer. Ihre Hand krampfte sich um
die Waffe, während sie auf den Käfig zuging. Beo lag auf dem Boden, den
Schnabel leicht geöffnet.
Beo? Kranichs Herz hämmerte. Sie entsicherte die Pistole, zielte auf die Tür
zur Speisekammer und ging darauf zu. Sie meinte, ein Poltern gehört zu haben.
Sie stieß die Tür auf, überprüfte den Raum, drehte sich ruckartig um und zielte
intuitiv auf den Garten. Eine Gestalt löste sich aus der Dämmerung und kam auf
sie zu.
„Bis du wahnsinnig?“ Sie zitterte, als er vor ihr stand.
„Ich hätte dich beinahe erschossen.“
Sie ließ die Waffe sinken. Sie war froh, dass sie nicht mehr alleine war. „Was
schleichst du hier herum?“
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Er hob entschuldigend die
Hände. „Ich bekam einen Hinweis, dass du auserwählt seist, und da musste ich
sofort kommen.“
„Einen Hinweis?“ Ihre Stimme klang alarmiert. „Ich auch! Jetzt warnt er also
noch andere vor, das ist neu. Sieh dir das mal an.“ Kranich deutete auf ihren
Laptop.
„Kam der Hinweis per Mail? Oder Telefon?“ fragte sie, während sie zu Beos Käfig
ging. Vielleicht lebte er ja noch. Sie streckte ihre Hand durch die Gittertür und
taste nach dem Vogel. In der anderen Hand hielt sie weiterhin die Waffe.
„Was ist das?“ Er warf einen Blick auf den Bildschirm.
„Ist das rote Fenster nicht mehr da?“
Kranich umschloss den Hals des Tieres und tastete unter den Flügeln. Sie fühlte
nichts. Da war kein Puls.
„Verdammt.“ Kranich zog ihre Hand wieder heraus. „Beo ist tot.“
„Nicht anfassen!“, schrie sie, als er nach dem Computer griff. „Ich rufe besser
gleich die Spusi.“
Im Zimmer war es dunkel geworden. Ihr Handy musste irgendwo auf dem Sofa liegen.
Beide zuckten zusammen, als es irgendwo knackte.
„Sollten wir nicht zuerst die Fenster schließen?“
Es knackte wieder. Jemand war da draußen, plötzlich war sie sich sicher: Er
hatte die ganze Zeit im Dunkeln auf sie gelauert. Kranich umschloss erneut die
Waffe mit beiden Händen.
„Verdammt.“ Mit entsicherter Pistole und rasendem Puls zog Kranich die erste
Schiebetür zu. „Ruf schon mal die Spurensicherung, die sollen einen Veterinär
mitbringen“, flüsterte Kranich, während sie die zweite Tür zuzog.
Nachdem sie den Hebel der letzten Schiebetür geschlossen hatte, legte sie ihre
Stirn an das kühle Fensterglas. Niemand war aus der Dunkelheit gesprungen.
Niemand hatte sie angefallen. Ihre Hand tastete nach dem Schalter für die
Jalousie, die einbruchsicher war. Beruhigt horchte sie auf das Geräusch der
herunterfahrenden Rollläden. Sie war sicher.
„Du sollst das doch nicht anfassen!“, schrie sie, als sie sich wieder umdrehte
und er ihren Laptop untersuchte. Ihre Nerven lagen blank.
Er sah sie an. „Du bist auserwählt, Margot.“
Etwas war anders.
„Was soll das? Bist du jetzt vollkommen bescheuert?“
Er fixierte sie. Etwas war anders in seinen Augen. Die Vertrautheit zerbrach
von einer Sekunde auf die andere. Kranich umklammerte ungläubig ihre Waffe.
„Du hast mich nicht erkannt, Margot.“
Das war nicht seine Stimme.
„Auch du bist Teil des Systems.“
„Welches System ...?“
Er stand auf. Er kam auf sie zu. Sie konnte den
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