Auserwaehlt
Hure.“ Hagen drückte den Kopf des Mädchens nach unten. Er stellte den
Sitz zurück. Sein Blick richtete sich auf die steinerne Fassade der Burg.
„Danke“, flüsterte sie und zwängte sich in den engen Vorraum.
DRITTER TEIL
DONNERSTAG, 5. SEPTEMBER
38
Die Schatten wurden länger. Sie teilten den Garten in eine
helle und in eine dunkle Seite. Das Kräuterbeet, das sie letztes Jahr angelegt
hatte, lag bereits im Dunkeln. Rosmarin. Sie liebte Rosmarin. Weißt du
eigentlich, hatte Johannes gestern gesagt, dass lateinisch „Ros“ auf Deutsch
„der Tau“ bedeutet und „Ros Marinus“ folglich „der Tau des Meeres“? Sie hatte
den Kopf geschüttelt und gelächelt. Das sei so, erklärte Johannes, weil Rosmarinsträucher
oft an den Küsten des Mittelmeeres wuchsen und sich nachts der Tau in ihren
Blüten sammelte. Jetzt, da der Wind die Äste des Strauchs sanft bewegte, meinte
sie, das Meer riechen zu können.
Alles war wie immer. Und doch stimmte etwas nicht.
Margot Kranich hatte es sich auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer bequem gemacht.
Die Fensterfront war weit geöffnet. Die Abendluft roch nach vergangenem Sommer.
Sie schloss die Augen.
Sie war erschöpft. Sie hatte die letzten Wochen Tag und Nacht gearbeitet, mehr
als drei Stunden Schlaf waren kaum drin gewesen. Normalerweise löste sich ihre
Anspannung nach der Unterzeichnung eines Geständnisses, die Arbeit der
Sonderkommission war dann nur noch Routine. Ein Geständnis war der ersehnte Punkt
unter all den offenen Fragen und Ängsten. Ein Punkt, der die Gerechtigkeit
wieder herstellte, zumindest den kleinen Teil, der auf Erden möglich war. Doch
das gute Gefühl wollte sich dieses Mal nicht einstellen, ihr Magen war und
blieb ein zusammengezogener Sack. In den Büschen knackte es.
Sie öffnete die Augen. Ein Vogel hüpfte aus dem Dunkel.
Sie brauchte Ruhe. Sie würde Urlaub nehmen, jetzt, da alles vorüber war.
Kranich nahm einen Schluck Wein. Das bauchige Glas lag schwer in ihrer Hand,
sie schwenkte es und beobachtete die herablaufenden Schlieren. Sie schämte sich
für die Szene, die sie Johannes gestern gemacht hatte. Er hatte schon immer ein
gutes Verhältnis zu Clara gehabt, doch seit einigen Monaten war es mehr als
das. Es war ihr nicht entgangen. Doch sie hätte ihn nicht darauf ansprechen
dürfen, denn egal, wie man es formulierte, am Ende stand man als eifersüchtige
Kuh da.
Sie starrte vor sich hin. Ihre Augen hatten sich an das Zwielicht gewöhnt, die
Konturen der Büsche und Blätter begannen, sich auszudifferenzieren. Gedankenverloren
zündete sie sich eine Zigarette an.
Sie wusste, dass sie keinen Urlaub nehmen würde; nur die Arbeit schützte sie
vor dem schwarzen Loch, zu dem sie sich selbst geworden war.
Kranich lauschte. Alles war ruhig. Doch etwas stimmte nicht.
Auf dem Coachtisch lag ihr Laptop. Sie würde noch ein paar E-Mails beantworten,
Arbeit war die beste Ablenkung. Sie musste das Arbeitszeugnis für Hagen endlich
fertigmachen. Er hatte in den letzten Wochen gearbeitet wie ein Berserker. Der
dünne, rote Faden, der ihm aus der Nase gelaufen war, war ihr nicht
aufgefallen. Sie schenkte Johannes Vermutung, dass Hagen Kokain schnupfte, kaum
Glauben. Johannes war voreingenommen. Sie hatte das Gefühl, dass er
eifersüchtig war.
Es war jetzt kurz nach sieben. Um zehn wollte Hagen bei ihr sein. Es war das
erste Mal, dass er allein zu ihr nach Hause kam. Sie hatte bereits geduscht,
sie hatte das Bett frisch bezogen, sie hatte einen guten Rotwein gekauft. Sie
hatte sogar etwas Lippenstift aufgelegt. Es fühlte sich an wie früher, fast.
Nur die Angst, sie könnte ihn nicht mehr losbekommen, trübte ihre Vorfreude.
Was sie am Anfang nicht für möglich gehalten hatte, war die Ernsthaftigkeit,
mit der er sie umwarb.
Sie schwenkte ihr Weinglas. In ein paar Wochen trat er die Stelle in den USA
an. Er brauchte doch noch eine Wohnung dort? Er würde demnächst abreisen
müssen. Es bestand also keine Gefahr. Vielleicht könnte sie ihn einmal im Jahr
drüben besuchen?
Kranich nahm ihren Laptop auf den Schoß, öffnete das Arbeitszeugnis und rief
ihre E-Mails ab.
Hagen van Velzen realisiert stets mit vorbildlichem persönlichen Einsatz erfolgreich
die gesteckten Ziele, las sie. Mit vorbildlich persönlichem Einsatz? Sie
musste lächeln. Sie benutzte seit Jahren dieselben Muster für die Arbeitszeugnisse,
doch dieses Mal klang es besonders komisch. Die Anforderungen seiner
Position bewältigt er auch bei starkem Arbeitsanfall immer zur vollsten
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