Auserwaehlt
Moment
lächelte sie in sich hinein.
Es war Freitagmorgen, kurz nach halb zehn. Clara saß in ihrem Büro vor dem
Computer. Mit der Sonderkommission „Steinfisch“ war auch die Urlaubssperre
aufgelöst worden und die meisten schienen den verpassten Sommerurlaub
nachzuholen. Draußen auf dem Flur herrschte Totenstille. Auch Margot war noch
nicht da. Vielleicht hätte Clara sich ebenfalls freinehmen sollen.
Clara massierte ihre Schläfen. Margot hatte ihr gestern Abend eine Mail weitergeleitet.
Sie kam von Erika Lechmeier aus dem Internat Schloss Knauthain. „Traurig“,
hatte Margot dazu geschrieben und hinzugefügt: „Vielleicht lagen wir ja doch
richtig mit unserer Vermutung ...“
Erika Lechmeier teilte in sachlichem Ton mit, dass „ihre liebe Kollegin und
Freundin Christine Berger“ am Dienstagabend „Hand an sich gelegt“ hätte. Mit
Schlaftabletten. Der Klassiker. Hand an sich legen ... Clara hatte die altertümliche
Formulierung schon lange nicht mehr gehört. Erika Lechmeier betonte, dass sie
„Christine Bergers Entschluss, freiwillig aus dem Leben zu scheiden,
bedauerten, aber akzeptierten.“ Im Prinzip fand Clara das auch in Ordnung, aber
so unmittelbar nach einem Suizid war ihr diese Haltung suspekt. Clara starrte
auf die hellgrüne Wand. Das Schildkrötenlächeln von Erika Lechmeier lag darauf.
„12 SSW“, tippte sie in die Suchmaschine ihres Computers. Wahllos öffnete sie
einen Link. Das Gesicht Ihres Babys sieht in Schwangerschaftswoche 12
menschlicher aus, auch wenn es vom Kopf bis zum Steiß nur circa 5,4 Zentimeter
groß ist und kaum mehr als 14 Gramm wiegt . Die Augen wachsen jetzt
dichter zusammen. Die Augen? Clara fände es schön, wenn das Kind Davids
Augen bekäme. Der Fötus windet sich, wenn Sie Ihren Unterleib leicht drücken
- allerdings werden Sie diese Bewegungen noch nicht spüren können. Clara
drückte ihren Bauch. Bald werden Sie das zweite Schwangerschaftsdrittel
erreicht haben ...
„Wo ist Margot?“ Ohne anzuklopfen stand Hagen in der Tür. „Sie ist noch immer
nicht da.“
„Ich weiß.“ Clara wurde heiß, als Hagen an ihren Schreibtisch trat. Schnell
schloss sie die Seite.
„Hat sie sich Urlaub genommen?“ Die letzten Wochen waren auch an Hagen nicht
spurlos vorübergegangen. Seine Augen waren rötlich wie bei einer Bindehautentzündung.
Seine Wangenknochen traten deutlicher hervor als früher.
„Ich weiß nicht“, sagte Clara.
„Hat sie nicht Bescheid gegeben?“
Clara schüttelte den Kopf ohne Hagen aus dem Blick zu lassen. Etwas stimmt
nicht mit ihm. „Vielleicht schläft sie nur mal aus?“
„Ich war gestern Abend mit Margot verabredet“, sagte er.
„Du warst was ...?“ Sie blickte ihm in die Augen, um sich zu vergewissern, dass
sie richtig gehört hatte.
„Ich war mit Margot verabredet. Bei ihr zu Hause.“
„Bei ihr ... zu Hause?“
„Aber sie war nicht da.“
„Sie war nicht ...?“
„Und jetzt ist es verdammt noch mal 9 Uhr 38.“ Er klopfte auf seine Armbanduhr.
„Ihr Handy ist aus. Sie geht nicht ans Festnetz. Sie antwortet nicht auf meine
Mails!“
Als Clara Hagens Aftershave roch, glaubte sie, sich übergeben zu müssen. Hagen
und Margot? Das war doch nicht möglich.
„Ich fahre jetzt zu ihr nach Hause. Kommst du mit?“
Clara starrte ihn an. „Ich weiß nicht.“
Ungeduldig zog Hagen den Autoschlüssel aus der Hose und hielt ihn hoch. Clara
fiel es wie Schuppen von den Augen. Es war die Ungeduld eines Liebenden.
40
Hagen van Velzen parkte den schwarzen Audi direkt vor
Kranichs Haus, es war dasselbe Modell, das auch die Hauptkommissarin als
Dienstwagen fuhr, nur älter. Clara war froh, wieder an der frischen Luft zu
sein. In Hagens Auto roch es stark nach Reinigungsmittel. Kein Krümel, kein
Müll, nichts lag herum. Sie hätte nur ungern in sein frisch geputztes Auto
gekotzt.
Margot wohnte in einem dieser modernen Häuser, die zur Straßenseite hin
wehrhaft und abweisend wirkten, weil die Fenster, die waagrecht und senkrecht
das Mauerwerk durchbrachen, nicht größer als Schießscharten einer
mittelalterlichen Burg waren. Auch privat hatte Margot sich also für den Festungscharakter
entschieden. Doch auf der uneinsehbaren, geschützten Seite zum Garten hinaus
lag die riesige Fensterfront. Hier war das Haus vollkommen offen. Verletzlich.
Hagen klingelte.
Zum wiederholten Male versuchte Clara, Kranich über das Handy zu erreichen.
Wieder sprang nur der Anrufbeantworter an. Ihr Handy war ausgeschaltet.
Hagen hatte recht. Das war nicht
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