Auserwaehlt
Notruf von einem Sechzehnjährigen rein, er habe seine Mutter tot in der
Küche aufgefunden. Jemand habe ihr den Schädel eingeschlagen. Es war ein
sensibler Junge. Ich habe ihn lange verhört, er hat mir alles erzählt, auch von
den Problemen in seinem Elternhaus, und gerade deshalb war ich mir so sicher,
dass er es nicht getan hatte. Ich habe mich damals für ihn eingesetzt wie eine
Wilde.“
Clara meinte, hinter Kranichs entschlossener Miene die Anlage einer zärtlichen
Mutter zu erkennen.
„Am Ende hat er sie erschlagen, weil er Geld brauchte.“ Sie zuckte verächtlich
mit den Schultern. „Wegen 50 Mark.“
Clara gab sich einen Ruck. „Margot, ich wollte mit dir noch über etwas anderes
reden.“
Es klopfte an der Tür. Es war Freitagabend, nach 20 Uhr, und Kranich sagte, als
ob sie ihn erwartet hatte: „Komm ruhig rein.“
Hagen versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, als er Clara
sah.
Er vermied auch den Blick der Hauptkommissarin. „Ich wollte nur kurz Bescheid
geben, dass ich noch im Büro bleibe.“
„Wir wollten noch was trinken gehen, komm doch mit“, schlug Clara vor.
„Du solltest eine Pause machen“, bekräftige Kranich die Einladung.
„Danke.“ Hagen erhob sich. „Ich hab noch zu tun.“
37
Hagen hatte gehofft, Kranich würde noch einmal zurückkehren.
Sie entzog sich ihm in letzter Zeit und er wusste nicht, warum.
Warum? Der Gedanke machte ihn wahnsinnig. Kurz nach elf schloss er sein Büro
ab. Er schaltete das Deckenlicht aus. Im Dunkeln ging er den Gang hinab. Seine
Schuhe hallten auf dem Steinfußboden. Was war los? Er kam einfach nicht runter.
Allein die Vorstellung, dass Margot lieber mit Clara ein Bier trinken ging,
trieb ihm vor Wut den Puls in die Höhe. Er verließ das Dienstgebäude über den
Haupteingang.
Van Velzen fuhr die Keithstraße hinab und bog in die Kurfürstenstraße ein.
Eine Frau im weißen, engen Kleid trat auf die Straße und winkte ihm zu.
Er hielt an und ließ das Fenster herunter. Sie beugte sich in den Wagen. Sie
hatte ein hübsches, unverbrauchtes Gesicht. Ihre Augen waren noch nicht kaputt.
„Na steig ein“, sagte er.
„Wohin fahren wir?“, fragte sie, als er in die Genthiner Straße abbog.
Hagen warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Sie war schlank, ohne ausgemergelt zu
sein, ihre Haut war gebräunt.
„Du bist doch noch keine Achtzehn“, stellte er fest. „Wo kommst du her?“
Sie zuckte mit den Schultern. Sie war nicht ängstlich.
„Kann ich mal deine Konzession sehen?“
Das Mädchen machte große Augen. „Warum interessiert dich das?“
„Ich bin Polizist.“
Sie lächelte trotzig. „Verarschen kann ich mich selber.“
Hagen zog seinen Dienstausweis heraus. „Bitte.“
Er spürte, wie sie ihn ansah, aufsässig, verzweifelt.
„Wo fährst du hin?“
„Zum Polizeirevier“, sagte er.
Das Mädchen schwieg. Hagen steuerte den Wagen am Landwehrkanal entlang, die
Parteizentrale der CDU kam in Sicht, er bog links in die Klingelhöferstraße
ein.
„Bitte“, sagte sie und ihre Stimme verlor an Selbstsicherheit, „Ich mach das
noch nicht lange, ich brauche nur Geld für eine Reise, dann höre ich auf damit.“
„Eine Reise?“
Ihr langes Haar gefiel ihm. Tatsächlich wirkte sie nicht wie eine
Prostituierte.
„Das ist gefährlich, was du tust.“ Der Innenraum wurde durch eine Leuchtreklame
erhellt. „Berlin, Berlin“, stand über dem Hotel am Lützowplatz. Er setzte den
Blinker nach rechts in die Wichmannstraße. „Manche Männer sind unberechenbar.“
Er bog ab.
„Bitte“, flehte sie. „Meine Mutter ist krank, ich brauch das Geld.“
Er hob die Augenbrauen und nickte. Natürlich log sie.
Er hatte die Keithstraße wieder erreicht. Im Schummerlicht der Straßenlaternen
verstärkte sich der Festungscharakter des Landeskriminalamts. Die Reifen
knirschten, als er den Wagen vor dem Präsidium zum Stehen brachte. Er parkte im
Schatten eines Baumes.
„Hier sind wir.“
„Bitte“, sagte sie mit Blick auf das Polizeiwappen. In ihren Augen stand jetzt
Panik.
Hagen löst den Gurt. Das letzte Fenster im dritten Stock war dunkel. Es war
Margots Fenster. Für einen Moment schloss er die Augen. Er sah, wie Margot
ihren Rücken durchbog, wenn er von hinten in sie eindrang. Er sah, wie sich
ihre Schulterblätter bewegten, er sah den Schweißtropfen, der ihre Wirbelsäule
hinunter glitt.
„Bitte, das Ganze ist doch nur ein Missverständnis“, hörte er das Mädchen
wieder wimmern. „Ich hab doch nur, ich bin doch nur ...“
„Eine
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