Auserwaehlt
Presse konnte nicht länger an sich halten, jetzt, wo man den
Mann hatte. Tim Ellenkamp genoss sichtlich die Aufmerksamkeit, sie tränkte ihn
wie Regen eine vertrocknete Pflanze. Das neue Selbstbewusstsein hatte sogar
seinen Gang verändert. Als er gestern dem Haftrichter vorgeführt wurde, hatte
Clara ihn von hinten nicht wiedererkannt. Man brauchte jetzt auch deutlich
länger, bis man feststellte, dass er ernsthaft krank war.
Clara hatte ihre Einschätzung abgegeben: Die Wahnsymptomatik, dass „Santo“ ihm
die Gedanken eingebe, wies eindeutig auf eine ernsthafte Schizophrenie hin.
Doch Tim Ellenkamp verfügte zugleich noch über genügend intellektuelle
Fähigkeiten; daher war auch denkbar, dass er „nur“ an einer schizoiden
Persönlichkeitsstörung litt und den Rest spielte. Seine schauspielerischen Fähigkeiten
wurden von Stunde zu Stunde besser.
„Natürlich hat er gestanden!“ Kranich schlug mit der Faust auf den Tisch, das
Wasserglas verfehlte sie nur knapp. „Einzelhaft ist ein Drei-Sterne-Hotel gegen
das Loch, in dem er gehaust hat.“
Kranich übertrieb.
„Wenn wir noch zwei Tage warten, gesteht er am Ende, Kennedy erschossen zu
haben!“
Unklar war noch, wo Tim Ellenkamp die Frauen gefangen gehalten hatte. In seiner
Wohnung am Rosenthaler Platz jedenfalls nicht.
„Weißt du, was mich wundert?“ Clara sprach leise, um Kranichs Lautstärke
auszugleichen. „Das mit der Spritze kam von ihm. Er hat eindeutig Täterwissen.“
Unklar war zwar, woher er das Stonus Toxin hatte, doch Tim Ellenkamp sprach
eindeutig davon, den Frauen „Spritzen“ verabreicht zu haben. Und seine Mutter
hatte nach der Krankenschwester noch eine Ausbildung zur Apothekenfachverkäuferin
gemacht. Sie war es, die das Pflegeheim mit Medikamenten versorgte. Das war
eine vielversprechende Spur, die kleine Ungereimtheiten wieder wettmachte.
„Okay okay, er hat gestanden.“ Kranich zwang sich zu einem Lächeln. „Schluss,
aus.“
„Man hätte ihm nie Hafterleichterung versprechen dürfen!“ fuhr sie im nächsten
Moment wieder hoch.
„Margot!“ Clara verstand ihre Aufregung, aber sie verstand sie nicht ganz. Tim
Ellenkamp war nicht der erste Fall dieser Art. „Der Mann hat gestanden, wir
sammeln Indizien, das Urteil fällen andere!“
Die Falten auf Kranichs Stirn sagten Clara, dass sie fortfahren sollte. Kranich
wollte die Rede hören, die sie in der Regel zu halten pflegte, damit sich ihre
Zweifel in Luft auflösten.
„Schon mal was von Legislative, Exekutive und Judikative gehört?“ Gedankenverloren
fuhr sich Clara mit der Hand über den Bauch. „Das nennt man Gewaltenteilung.
Wir machen die Gesetze nicht. Wir kümmern uns nur um die Einhaltung der Regeln.
Und wer ist zuständig für die Verurteilung?“
Kranich fischte ein altes Päckchen Marlboro aus der Schublade, nahm eine
Zigarette heraus und zündete sie an.
„Die Gerichte?“ Kranich sah Clara an.
„Diese Trennung schützt uns vor uns selbst“, nickte Clara. „Wir glauben, einen
Täter gefasst zu haben. Wir haben gute Gründe, ihn für schuldig zu halten.
Manchmal glaubt sogar ein Verdächtiger wie Herr Ellenkamp, der Täter zu sein.
Auch er wird gute Gründe haben, das zu glauben.“ Clara bohrte ihren Finger in
ein altes Dübelloch. „Diese Gründe müssen aber geprüft werden. Und das muss ein
Gericht tun.“
Kranich rauchte. „Und weißt du auch warum?“, fuhr sie jetzt selbst fort.
„Die Gerichte sind unabhängig“, antwortete Kranich sich selbst.
Clara konnte es nicht fassen, dass Margot im Büro einfach rauchte. Das rote
Licht am Feuermelder blinkte. Clara ging ans Fenster und öffnete es.
„Und wir sind es nicht.“ Kranich legte ihre Beine auf den Tisch. Sie trug ihre
alten Cowboystiefel, die sie nur trug, wenn sie sich nach offenem Zweikampf in
der Wüste sehnte.
Das Telefon klingelte.
Es war Ursula, die zu dem Ermittlungserfolg gratulierte.
„Danke, danke.“ Kranich nahm die Füße vom Tisch. „Ja, wir haben ein Geständnis“,
bestätigte sie und ließ die Zigarette in das Wasserglas fallen. „Ja, mach ich.
Und danke.“ Sie lächelte Clara zu. „Und sag der Knuppers einen Gruß von mir.“
Kranich seufzte, nachdem sie aufgelegt hatte. Sie sah jetzt deutlich zufriedener
aus.
„Ich halte diesen Ellenkamp für einen Idioten, aber nicht für den Täter“, sagte
Margot. „Aber natürlich kann mich mein Gefühl auch täuschen.“ Sie lehnte sich
in ihrem Ledersessel zurück. „1980, da war ich ungefähr so alt wie du jetzt, da
kam ein
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