Auserwaehlt
Widerwillig und fasziniert machten die
Leute Platz. Obwohl der Wagen nicht schwarz war wie die Wägen der Bestattungsunternehmer,
sah man sofort, dass er kam, um eine Leiche abzutransportieren. Thilmann
Reichenbaum trat zur Seite, um die Männer durchzulassen, die im Innern des
Hauses auf den Wagen gewartet hatten. Sie mussten durch den Vorderausgang. Es
gab keine andere Möglichkeit. Er starrte auf die längliche, schwarze Box.
Draußen ging das Blitzlichtgewitter los. Was sollte er antworten?
Er hatte keine Antworten. Er hatte nur Fragen. Warum Margot? Warum verdammt
noch mal Margot? Hatte es dieser Wichser von Giftmörder von Anfang an auf
Margot abgesehen gehabt? War sie von Anfang an sein eigentliches Ziel gewesen?
Oder galt der Anschlag ihnen allen, der ganzen Berliner Kriminalpolizei? Dieser
Verrückte wollte es also mit ihnen aufnehmen? Reichenbaum wimmerte. Dann
straffte er die Schultern. Warte, Freundchen. Dieses Mal hast du in ein
Wespennest gestochen, Du hast eine Königin umgebracht und er, Thilmann
Reichenbaum, würde solange keine Ruhe mehr geben, bis dieser Irre ...
„Thilmann?“
Er blickte auf den akkurat gezogenen Mittelscheitel seiner Assistentin hinab.
„Ich hab schon über dreißig Anrufe von Kollegen erhalten, vom Streifenpolizisten
bis zum Hauptkommissar. Alle sind außer sich. Alle wollen ihr Beileid bekunden.
Alle verstehen den Mord als offene Kriegserklärung.“
„Wir müssen aufpassen, dass die Emotionen nicht überhandnehmen“, fuhr sie fort,
als ihr Chef sie fragend ansah. „Vielleicht wäre es gut, ein Kondolenzbuch
einzurichten oder so, damit die Trauer kontrollierbar bleibt. Entfesselte Wut
ist jetzt das Letzte, was unseren Ermittlungen hilft. Wenn jeder Streifenpolizist
auf eigene Faust loszieht, haben wir ein Problem.“
Reichenbach nickte. Rebeccas Gesicht war so klar wie ihr Verstand und nach drei
Jahren der Zusammenarbeit wusste er noch immer nicht, ob ihre rationale Art ihn
regelmäßig zur Räson oder zur Verzweiflung brachte.
„Die Spurensicherung ist hier unten fertig“, fuhr sie fort. „Ich habe gesagt,
sie sollen oben weitermachen. Dann hat Wächter von der Bereitschaftspolizei angerufen
und gefragt, ob der Garten jetzt endlich frei ist. Ich hab gesagt, sie sollen
kommen, ist das okay?“ Der hellbraune Pony fiel ihr bis über die Augenbrauen.
Sie blinzelte mehrmals, als ihr Chef noch immer schwieg. „Clara und Hagen sind
stabil, wie es aussieht, aber das Team von Kranich braucht dringend
Anweisungen, wie es weiter gehen soll.“
Wie wir alle, wollte sie hinzufügen. Doch ein Blick in die leicht geöffneten Pupillen
ihres Chefs, die flackerten wie in der REM-Phase, sagte ihr, dass er noch auf
Tauchstation war. Er brauchte Zeit. Der Tod seiner Kollegin traf ihn
wahrscheinlich stärker, als sie anfangs vermutet hatte. Also übernahm sie solange
das Kommando, ohne sich einzugestehen, dass auch sie überfordert war.
„Danke“, sagte Reichenbaum. Zu ihrer Erleichterung ging er zurück in das
Wohnzimmer, wo die anderen warteten. „Ich kümmere mich um die Leute. Geh du
bitte raus zu Wächter und mach ihm klar, dass wir jeden Mann brauchen. Das hier
hat absolute Priorität.“
Reichenbaum ging auf den Holztisch zu, jeder Schritt fiel
ihm schwer wie in einem jener Träume, in denen man nicht von der Stella kam.
Hagen, Clara und Johannes Teufel saßen an dem länglichen Holztisch. Hagen
stierte vor sich hin. Teufels Blick glitt unentwegt über die schockierten Gesichter
der Anwesenden, als müsse er sich vergewissern, dass das wirklich passiert war.
„Geht es wieder?“ Reichenbaum hätte sich ohrfeigen können. Doch ihm fiel nichts
anderes ein, was er sagen könnte.
Clara sah ihn an. Auf ihn machte sie den stabilsten Eindruck. Nur in ihren Augen
stand dieses Entsetzen, als habe sie in den Abgrund geblickt. Reichenbaum
kannte das. Bei den meisten legte sich dieser Blick nach einer Weile wieder.
„Es ging ihm um Margot“, sagte sie leise. „Von Anfang an.“
Reichenbaum nickte. Sein Gesicht hatte eine gelbe Farbe und scharfe Furchen. Er
hätte Soldat sein können.
„Wir müssen jetzt alle Ruhe bewahren.“ Er hob die Hände. Seine Finger waren
schlank und gepflegt.
„Gibt es schon Erkenntnisse?“ Hagen sah ruckartig auf. Reichenbaum erschrak.
Der Blick des jungen Mannes war stechend, aggressiv. Hagen sann auf Vergeltung,
wie sie alle, doch er musste sich zügeln. Reichenbaum würde nachher mit ihm
sprechen, wenn sie alleine waren. Reichenbaum kannte Hagen. Er war
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