Ausgeflittert (Gesamtausgabe)
Ich bitte Jean, weiter zu machen und ziehe Clara dicht an mich heran.
»Mein kleiner Liebling. Ich hab dich so vermisst.« Mehr Worte bringe ich nicht heraus. Ein dicker Kloß im Hals nimmt mir die Stimme und bringt dafür einen Sturzbach an Tränen hervor. Die Kleine erzählt von ihrer Reise nach Italien.
»Wir haben immer auf dem Boot geschlafen. Papa will mir heute einen Ranzen für die Schule kaufen. Ich will einen in Pink, aber es gibt nur rote und blaue. Kaufst du mir einen? Wie geht es Titus? Wann kommen wir wieder nach Hause?« Ich kann nur zwei Fragen beantworten.
»Titus geht es prima. Er bekommt täglich frische Möhren von mir. Einen Schulranzen mit Schultüte in Pink besorge ich dir. Wo ist Papa?« Clara deutet mit dem Finger nach links. Also bei René.
»Er wollte nicht mitkommen.« Ich stelle mich in die Ladentür und schaue nach nebenan in das Straßenlokal. Ich entdecke ihn sofort. In Jeans und krausem Shirt, mit viel zu langen Haaren und seinem Stoppelbart sitzt er allein an einem Tisch und trinkt einen Kaffee. Ich zeige Clara in aller Ausführlichkeit das neue Geschäft. »Komm jetzt, Clara!« Tobi steht im Laden und schaut an mir vorbei. Meinen Blick erwidert er nicht. Er nimmt seine Tochter auf den Arm und geht hinaus. In der Tür dreht er sich um und sagt:
»Herzlichen Glückwunsch zur Geschäftseröffnung.«
»Arschloch!«, rufe ich ihm hinterher. Jean kommt aus seinem Behandlungsraum.
»Sie haben mich gerufen?
»Heißt du Arschloch?«
»Was ist mit Ihnen, Marie? Warum weinen Sie?«
»Ich bin wütend auf meinen Mann. Das ist alles. Hol mir einen doppelten Cognac von nebenan. Ich muss ganz schnell meinen Groll loswerden!« Zwei Stunden später verschließe ich die Ladentür und winke René im Vorbeigehen zu.
»Isst du heute nicht?« Ich schüttle den Kopf.
»Er reist morgen schon wieder ab. Richtung Spanien hat er gesagt.«
»Reisende soll man nicht aufhalten.«
»Er war nur hier, um seinen Proviant aufzufüllen.«
»Das kann er dir erzählen! Jeder Hafen hat einen Supermarkt. Also warum gerade hier? Er ist extra gekommen, um mich zu quälen.«
»Ich glaube, er ist eifersüchtig auf Jean.«
»Jean ist schwul! Und vom Alter her könnte er mein Sohn sein.«
»Geh zu ihm und sprich mit ihm. Er wirkt nicht glücklich.«
»Das wäre ja auch noch schöner. Er soll leiden wie ich!«
»Euch ist einfach nicht zu helfen!« Ich fahre heim, ohne einen Blick an den Anleger zu werfen.
Die Monate Juli und August fordern mein e letzte Kraft. Woche für Woche ohne einen Ruhetag in der Hauptsaison auszukommen, ist nichts für Feiglinge. Jean ist auch abgespannt und müde. Er bekommt nach mehr als drei Monaten den ersten freien Tag. Steffen ist angereist, um mit mir meinen Geburtstag zu feiern und übernimmt seine Massagetermine. Dem Rest der Familie habe ich signalisiert, dass es kein großes Fest geben wird.
»Lasst uns im Oktober nachfeiern. Dann habe ich das Geschäft geschlossen und wieder mehr Zeit.« Aber Frederik ließ sich nicht abbringen. Er reist ohne Frau und Kinder, aber dafür mit Sarah an.
»Du wirst auf keinen Fall den Abend allein verbringen. Wenn du keine Zeit hast, ein Fest auszurichten, dann kümmern wir uns um das Abendessen.« Widerspruch war zwecklos.
Steffen verlässt das SPA nach seinem letzten Termin am späten Nachmittag und hilft im Haus, eine kleine Feier vorzubereiten. Kurz vor Ladenschluss betritt René mit einer gekühlten Flasche Champagner meinen Laden. Er will mit mir anstoßen.
»Nicht böse sein, aber ich werde es nicht schaffen, zu deiner Geburtstagsfeier zu kommen. Dennoch habe ich eine Überraschung für dich.« Er geht kurz nach nebenan und kommt mit einem großen Blumenstrauß zurück.
»Wie hübsch! Danke René, ich freue mich.«
»Die Blumen sind nicht von mir, sondern von Tobi. Er sitzt nebenan und fragt, ob er kommen darf.« Ich bin nicht sonderlich erstaunt. Seine Yacht habe ich schon vor zwei Tagen entdeckt und gehofft, dass er mir wenigstens gratulieren wird.
»Es ist noch eine Stunde geöffnet, wenn er sich bis dahin traut.« Nach wenigen Minuten kommt er herein.
»Ich gratuliere dir! Alles Gute!« Unsicher schaut er sich um und sucht nach Worten.
»Sehr professionell und geschmackvoll. Läuft der Laden gut?«
»Bist du ein Abgesandter vom Internationalen Wellness Verband oder was soll
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