Ausgefressen
geniest, bohrt sich mir ein Turnschuh in die Rippen und lässt mich über den Bürgersteig schlittern. Meine Rutschpartie endet, als ich gegen einen Pfahl schlage und mich inmitten einer Menschenmenge wiederfinde, die einen Fahrplan studiert.
»Eine Ratte«, schreit eine Frau aufgebracht. »Tu das weg, Norbert!«
Ich habe mich so weit gesammelt, dass ich ihr ein »Seh ich etwa aus wie eine Ratte?« entgegenschleudern kann, da bohrt sich mir bereits die Spitze von Norberts schwarzrotgoldenem Regenschirm in die Leiste. Touristen, denke ich. Selbst bei vierzig Grad im Schatten haben die einen Regenschirm dabei. Als würden … »Aua!« Der Regenschirm steckt mir praktisch im Rücken. Ich winde mich, fauche, strecke meine gespreizten Krallen vor. Und stürze davon. Im nächsten Moment stülpt sich mir die Hupe eines Mercedes über den Kopf, saugt mich in sich ein und reinigt mit einem » MÖÖÖÖÖÖP « sämtliche meiner Gehirnwindungen wie mit Chlorbleiche. Mit einem zirkusreifen Flickflack rette ich mich zurück auf den Bordstein, wo ich freundlich von drei rollschuhfahrenden Jugendlichen empfangen werde, die mich gerne als Lebendpuck für ihre Hockeyschläger verwenden möchten, zwänge mich in letzter Sekunde unter der Glaswand eines Wartehäuschens hindurch und lande direkt vor den Füßen von zwei hilfsbereiten Streifenpolizisten, die mit mir im Zickzack um die Wette rennen, bis es mir gelingt, durch eine hollywoodreife Stunteinlage in den Korb eines vorbeiradelnden Fensterputzers zu hechten, der dadurch leider so aus der Fassung gerät, dass wir beide auf der Motorhaube eines schwarzen Audis landen, dessen Fahrer alles andere als beglückt aussieht. Schön warm, denke ich, die Haube, sehe die Klinge eines Fensterschabers auf mich zurasen, lasse mich rückwärts über den Kotflügel rollen, sprinte zu einer Bank und zwischen den orthopädischen Schuhen einer älteren Dame hindurch und verschwinde im Gebüsch.
Atemlos blicke ich durch die Zweige. Die Polizisten würden gerne weiter mit mir um die Wette laufen, haben aber jetzt erst einmal den Unfall des Fensterputzers aufzunehmen. Ich habe also ein paar Minuten Zeit, meinen Pulsschlag zu beruhigen und mir zu überlegen, wo ich mich fürs Erste in Sicherheit bringen kann. Viele Möglichkeiten habe ich nicht. Eigentlich gar keine. Ich stecke im einzigen Gebüsch eines winzigen begrünten Quadrates, das zu allen Seiten von Betonplatten eingeschlossen ist. Sobald ich auch nur ein Bein raussetze, bin ich Freiwild. Dann haben die beiden Uniformierten da drüben leichteres Spiel mit mir als ein Savannenadler auf offenem Feld. Aber ich bin schließlich nicht irgendwer. Ich bin Ray. Wenn’s einfach wäre, könnte es jeder.
Als die beiden Beamten zur Bank rüberkommen und die alte Dame mit den orthopädischen Schuhen fragen, ob ihr ein »ungewöhnliches« Tier aufgefallen sei, stecke ich bereits in ihrem Einkaufstrolley zwischen zwölf Tafeln Schokolade, sechzehn Rollen Klopapier und zwei Flaschen Hochprozentigem.
»Nein, danke«, höre ich die Dame mit brüchiger Stimme antworten. »Ich komme sehr gut alleine zurecht.«
Wenig später setzt sich der Trolley in Bewegung, ruckelt über die Platten und schiebt sich in Zeitlupe über den Gehweg. Ich blinzele unter dem Deckel hervor, warte, bis wir auf Höhe einer Bushaltestelle sind, die an den Tiergarten grenzt, schlüpfe aus dem Trolley, verschwinde unbemerkt im Gebüsch und klettere auf eine Linde, deren Äste über den Bürgersteig ragen. Dort hocke ich, verfolge, wie langsam die Sonne über den Dächern aufzieht, und denke über mein Leben nach.
Kein guter Moment. Sollte man nicht machen: Über sein Leben nachdenken, wenn man gerade ganz unten aufgeschlagen ist. Da ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich groß, dass man zu dem Schluss kommt, dass es keinen Sinn mehr hat, noch länger daran festzuhalten. Und genau das passiert mir. Ich finde, ich habe gute Argumente auf meiner Seite: In den Zoo kann ich nicht zurück, so viel ist klar. Mich zu Rockys Handlanger degradieren lassen? Niemals. Elsa? Wird für mich auf immer unerreichbar bleiben. Und hier draußen? Gibt es niemanden, der auf mich wartet. Und selbst, wenn es mir gelänge, Fuß zu fassen – ich würde doch nur ein Fremder in der Fremde bleiben.
Auf meinem Ast hockend, zwischen Blättern, die das Sonnenlicht in tausend leuchtenden Scherben auf mich herabregnen lassen, verabschiede ich mich von meiner Familie. Pa: Nimm es nicht so schwer. Am Ende ist auch
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