Ausgefressen
das nur wieder eine Enttäuschung mehr. Ma: Nein. Pa hat mich nicht geliebt. Auch nicht auf seine Weise. Und auch nicht, wenn du das gerne gehabt hättest. Rufus: Sorry. Rocky: Du würdest es nicht verstehen. Roxy: Du erst recht nicht. Ihr anderen: Ebenfalls nicht.
Ist es normal, dass man seine eigene Spezies verachtet? Ich weiß, bei den Menschen ist das weit verbreitet. Aber im Tierreich? Bin ich der Einzige? Und es ist nicht nur meine eigene Spezies, die ich verachte. Die Flamingos: Wie blöd kann man sein? Die Nashörner: Ich brauche nur an Sag-ihm-er-darf-das-nicht-Ursula zu denken, und mir kommt die Galle hoch. Die Elefanten: Fressen, fressen, fressen. Wenn ich es recht bedenke, gibt es eigentlich kaum eine Spezies, die mir nicht auf die Eier geht. Rufus hat mir erzählt, die Menschen würden jeder Tierart, die sie ausrotten, nachtrauern. Erst rotten sie sie aus, dann tut es ihnen leid. Ich finde, man sollte ihnen für jede ausgerottete Spezies dankbar sein. Von mir aus könnten sie sich gerne als Nächstes die Erdmännchen vornehmen. Und bei Rocky anfangen. Oder bei mir.
Bei diesem Gedanken angekommen, spüre ich, es ist so weit. Ich bin bereit zu gehen. Theatralisch lasse ich mich von meinem Ast mitten in eine Gruppe Japaner fallen, die entsetzt zurückweichen, einen Haufen merkwürdiger Laute ausstoßen und ihre Kameras in Anschlag bringen. Ich gebe ihnen, was sie haben wollen, richte mich auf, spreize meine Krallen und strecke die Vorderbeine von mir. » BUH !«, rufe ich, drehe mich um die eigene Achse und nehme eine japanische Brillenschlange ins Visier, die sich gerade verzückt ihrer Angst hingibt: »Rroooaaarrrr!« Mein Abschiedsgruß an die Welt. Ungefähr die Hälfte von ihnen beginnt zu applaudieren. Ganz unter uns: Glauben Japaner wirklich, sie seien schlauer als zum Beispiel Gnus?
Wie auch immer: Der Zeitpunkt ist gekommen, um Schluss zu machen. Endgültig. Als ich merke, wie mir die Tränen in die Augen schießen, breche ich meine Show ab, marschiere zwischen zwei Japanern hindurch Richtung Straße und schließe die Augen. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass meine Hinterpfote keinen Halt findet, ins Leere tritt und ich im Rinnstein zwischen Zigarettenstummeln und einer aufgeplatzten Tamponpackung liege. Die Reisegruppe freut es.
Vor mir verläuft die Busspur. Ich warte, bis der nächste Doppeldecker-Bus seine Pforten schließt, sich schwerfällig vom Bordstein löst und mit aufheulendem Motor direkt auf mich zusteuert. Was immer mich jetzt erwartet: Ich bin bereit, es anzunehmen. Ich springe auf die Straße, breite die Vorderbeine aus, blicke auf ein weißes Schild mit schwarzen Buchstaben und Zahlen, die sehr schnell sehr groß werden – sorry, Rufus, ich könnte dir noch nicht einmal sagen, welches Nummernschild mich überfahren hat –, schließe die Augen und werde in die Luft geschleudert.
Genau genommen werde ich nicht geschleudert, sondern gerissen. Und zwar an einer Kralle. Zurück auf den Bordstein. Bremsen quietschen. Der Bus öffnet seine Türen, und ein Mann brüllt: »Ick glob, dir brennt der Helm, Alter!«
Die japanische Reisegruppe applaudiert geschlossen.
»Alles in Ordnung?«, fragt mich eine Stimme, und das ist der Moment, da ich einsehen muss, dass meine Zeit zu gehen offenbar noch nicht gekommen ist. Ob ich will oder nicht.
Ich öffne die Augen und sage: »Hast du deine Brille verloren?«
Sie liegt auf der Busspur, in drei Teilen und mit geborstenen Gläsern. Phil hat mir das Leben gerettet. Und seine Brille geopfert.
»Hast du gerade versucht, dich umzubringen?«, fragt er mich.
Dieselbe Frage – zweimal in zwei Tagen. Wir sitzen in Phils Wagen. Er am Steuer, ich auf dem Beifahrersitz. Zum ersten Mal befinde ich mich im Inneren eines Autos. Ein Volvo, wie Phil mir erklärt. Es mufft, die Bezüge sind speckig, und der Boden ist mit Einwegbechern übersät.
»Du quatschst denselben Scheiß wie mein Bruder«, antworte ich.
»Verstehe.« Er zieht eine Ersatzsonnenbrille aus dem Handschuhfach, die exakt so aussieht wie die, die der Doppeldeckerbus zermalmt hat. »Bist ein echt harter Typ.«
Ich erspare mir eine Antwort und mache mich stattdessen mit dem elektrischen Fensterheber vertraut.
Schweigen. Männer unter sich. Sssssst – Fenster runter. Ssssssst – Fenster rauf. Ssssst …
»Was hast’n jetzt vor«, fragt Phil, »mit deinem Leben?«
»Verrückt, oder?« Sssssst. »Ich hab doch tatsächlich glatt vergessen, mir Gedanken über die Zeit
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