Ausgefressen
für meinen Teil fand ja immer, dass das Holz eher nach deutscher Buche aussieht, aber das gehört zu den Dingen, die man in unserem Clan besser nicht laut ausspricht.
Um auf Rocky zurückzukommen: Roxi hat die ganze Nacht über gequiekt wie ein Meerschweinchen, während Rocky gegrunzt hat wie ein Hängebauchschwein. So hab ich sie denn auch vor mir gesehen: Ein Meerschweinchen mit dem Gesicht meiner Schwester, dass von einem Hängebauchschwein mit dem Gesicht meines älteren Bruders gebumst wird. In den kurzen Pausen hat Rocky sein Meerschweinchen dann losgeschickt, um beim vierten Wurf Nachschub in Sachen Traubenzucker zu besorgen. Und als die beiden dann endlich, endlich, endlich vor Erschöpfung eingeschlafen waren, wurde der gesamte Bau augenblicklich von Rockys Schnarchen erfüllt.
»Morgen, Ray. Früh dran, heute.«
Ich antworte ihm nicht. Oder ihr. Es gibt keinen Grund mehr, länger Freundlichkeit zu heucheln. Und diesen chronisch unterbelichteten Flamingos gegenüber schon gar nicht. Außerdem habe ich nicht vor, jemals zurückzukommen.
»Fick dich, Flamingo.«
Der Flamingo reckt stolz seinen Hals und wendet pikiert den Kopf ab. »Was man sich hier bieten lassen muss«, zischelt er. Oder sie. Dann spreizt er seine Flügel ab, als trüge er eine Federboa. »Noch dazu von einem, der in der Erde wühlt …«
Bei den Tieren ist es wie bei den Menschen: Oft ist der Dünkel dort am größten, wo am wenigsten Anlass dazu besteht. Die Flamingos sind das beste Beispiel. Nur weil sie tagelang auf einem Bein stehen können und dieses ordinär gefärbte Gefieder haben, bilden sie sich ein, Gott habe sie dem Tierreich als Krone der Schöpfung aufgesetzt. Obwohl sie allesamt Wendehälse sind. Und obwohl selbst die Pinguine wissen, dass die Flamingos ihre Färbung einzig dem Carotin verdanken, das man ihnen hier zentnerweise zu fressen gibt. Ich sag es ja: Ist genau wie bei den Menschen. Da sind die Frauen stolz auf Möpse, die ihre Männer ihnen gekauft haben.
Ich drehe meine letzte Runde. Ciao Ursula, ciao Justus, ciao Heiner, Nicole und Benjamin, ciao ihr debilen Flach- und Hochlandgorillas, ciao ihr hirnverbrannten Gnus und ciao ihr behämmerten Pinguine. Den Rückweg erspare ich mir. Spätestens vor Elsas Gehege würde mein Herz stehenbleiben. Nicht dass ich etwas dagegen hätte, wenn mein Herz stehenbliebe. Aber ich entscheide, wo und wann. Und es wird nicht vor Elsas Gehege sein. Das wird dieser schmierige Fettsack, der sich Giacomo nennt, nicht erleben. Außerdem – schon vergessen? – gehe ich nicht zurück. Stattdessen werde ich dem Zoo endgültig den Rücken kehren.
Ist ein Schock, ich weiß. Keins der Sippenmitglieder hat es je gewagt, die Grenzen dieser Welt hinter sich zu lassen. Aber, wie sagt Rufus: Egal, wie weit der Weg ist, man muss den ersten Schritt tun. Apropos Sippenmitglieder: Ich bin kein Mitglied mehr. Von gar nichts. Rocky und sein Clan sind nicht länger meine Sippe, und unser bescheuertes Gehege ist nicht länger mein Zuhause. Wenn ich es recht bedenke, hatte ich nie wirklich ein Zuhause. Vor dem Gehege der Schabrackentapire drehe ich mich ein letztes Mal um, rufe allen im Geiste ein letztes, mitfühlendes, zärtliches »Leckt mich!« zu, zwänge mich zwischen zwei Stäben des Löwentores hindurch und bin in Freiheit. Oder wie immer man das nennen will.
Autos. So weit das Auge reicht. Autos und Busse. Als hätten auch die Menschen kein Zuhause.
»Ey, Kleiner, haste mal ’n Euro?«
Neben dem Löwentor kauert zwischen zwei Pappkartons eine Gestalt, die meiner Aufmerksamkeit unerklärlicherweise entgangen ist, weil sie nämlich … stinkt. Nach Rotwein. Im Tetrapack.
»Hast du mich gerade ›Kleiner‹ genannt?«, frage ich.
»’tschuldigung«, brummelt die Gestalt und scheint darüber ihre Frage zu vergessen.
So. Jetzt bin ich also in Freiheit. Da, wo sich kein Zootier jemals hingewagt hat. Wildwest. Großstadtsavanne. Fressen oder gefressen werden.
Was für ein Trauerspiel.
Ein Bus dröhnt an mir vorbei, bläst mir erst meine empfindlichen Ohren mit Motorgejaule voll, um meine empfindliche Nase anschließend mit Dieselgestank zu versiegeln. Die Euphorie des Aufbruchs bröckelt ein wenig. Ich weiß, ich sollte mich fühlen wie Clint Eastwood in ›Erbarmungslos‹, aber, ganz ehrlich: Am liebsten würde ich vor Verlassensein auf der Stelle anfangen zu heulen.
Glücklicherweise habe ich dazu keine Gelegenheit, denn kaum habe ich mir die Dieselschmiere aus den Nüstern
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