Ausgefressen
kommt es, dass niemand ihn nach seinem Verschwinden vermisst hat?«
»
Wir
haben ihn vermisst. Aber es scheint so, als wären wir die Einzigen gewesen. Auf die Vermisstenanzeige hat sich niemand gemeldet. Sie würden staunen, wenn Sie wüssten, wie viele unserer Bewohner sterben, ohne dass irgendjemand Notiz davon nimmt.«
Wir erfahren noch, dass Jürgen Becker eine Frau und eine Tochter hatte, die allerdings beide schon vor langer Zeit bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, und dass sein Zimmer bereits seit über einem halben Jahr neu vermietet ist. Seine Habseligkeiten wurden, wie in »solchen Fällen« üblich, nach sechs Monaten einer gemeinnützigen Einrichtung zugeführt.
Kurz bevor Frau Hirschmann endgültig von dem Gewicht ihrer Gesichtsfalten ins Linoleum gedrückt wird, stützt sie sich schwerfällig auf der Tischplatte ab, stemmt sich aus ihrem Stuhl und sagt mit ihrer verträumten Mädchenstimme: »Kommen Sie, ich zeig Ihnen was.«
Phil schwingt sich unsanft die Tasche über die Schulter, in der ich mich versteckt halte, dann folgt er Frau Hirschmann in den Flur. Die Geruchsschlacht strebt einem neuen Höhepunkt zu. Bis zum Ende des Flures kann ich den Brechreiz noch unterdrücken, dann werde ich eine Treppe hinabgeschaukelt, denke noch schnell »oh, oh«, überlege fieberhaft, wie ich Phils Tasche möglichst wenig in Mitleidenschaft ziehen kann, und übergebe mich in die Plastikfolie mit den Dokumenten.
Nach zwei Treppen hinunter ins Erdreich und einem Flur voller Neonlicht erreichen wir eine Metalltür, die Frau Hirschmann mit einem Schlüssel öffnet, der Rocky mühelos als Trainingshantel dienen könnte. Kurz darauf befinden wir uns im vermutlich traurigsten Raum dieses Planeten. Ich werde auf einem grauen Tisch mit ermüdungsbrüchigen Kanten abgestellt und erblicke Reihen graugestrichener Metallregale, in denen Hunderte grauer Pappschachteln lagern. Frau Hirschmann verschwindet im Halbdunkel, kehrt mit einer der Pappschachteln zurück und legt sie auf den Tisch. Zweiundsiebzig Jahre, und am Ende bleibt eine graue Pappschachtel, die vergessen in einem Kellerregal vor sich hingammelt.
»Bitte«, fordert sie Phil auf.
Die Schachtel ist praktisch leer: eine Lesebrille, ein altes Foto, auf dem Becker mit Frau und Tochter zu sehen ist, stolz, in den besten Jahren, vor sich eine pastellfarbene Zukunft, die bald darauf verblasst sein dürfte. Ein Füller mit verbogener Feder, eine bunte Plastikblume – »die hat er immer im Knopfloch getragen« –, eine Medaille: 3 . Platz, 200 Meter Freistil, 1963 .
»Wissen Sie, was er beruflich gemacht hat?«, fragt Phil.
»Taxifahrer.«
Der Deckel schließt sich, die Schachtel kommt zurück ins Regal, das Licht erlischt, die Tür fällt ins Schloss.
»Alles klar?«, fragt Phil auf dem Weg zurück zum Parkplatz.
Ich betrachte die ausgebeulte Folie, in der mein Erbrochenes fröhlich hin- und herschwappt. »Ich fürchte, wir haben ein kleines Problemchen.«
»Ein Taxifahrer, der seine Familie bei einem Autounfall verliert und trotzdem nicht verbittert …«, überlegt Phil.
Wir sitzen in seinem Volvo, der noch immer auf dem Besucherparkplatz des Pflegeheim-Senioren-Wohnpark-Dings steht, haben die Türen geöffnet, genießen die warme Sommerluft und warten darauf, dass die von meinem Erbrochenen gereinigten Dokumente trocknen, die auf der Motorhaube ausgebreitet liegen.
Ich führe Phils Gedanken fort: »Ein freundlicher älterer Herr, ohne Angehörige, ohne Feinde, tierlieb …«
»Warum wird so einer erschossen und im Zoo verscharrt?«
»Weil er zu viel wusste?«, überlege ich.
»Zu viel worüber?«
»Illegale Machenschaften im Senioren-Wohnpark: Organhandel, Versicherungsbetrug, Drogenmissbrauch …«
Phil dreht mir seine Brille zu: »Nicht schlecht, Schnüffler«, sagt er. »Nur: Was Jürgen Becker gewusst hat, müssten auch die anderen gewusst haben. Es muss eine Verbindung geben. Irgendeine Ahnung, was das sein könnte?«
Ich überlege, scanne den Parkplatz, überlege noch ein bisschen, kraule mir die Eier, überlege, drücke am Fensterheber herum, der nicht reagiert, weil der Zündschlüssel nicht steckt. »Keinen Schimmer«, sage ich.
Phil steigt aus, sammelt die Dokumente von der Motorhaube, steigt ein, schließt die Türen. »Alois Schirrmacher«, liest er den Namen auf einem Personalausweis. »Pflügerstraße.«
»Dann mal los«, sage ich, als würde ich in der Pflügerstraße seit Jahren mein Tierfutter besorgen.
Phil
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