Ausgefressen
es in Zeitraffer. »Ab jetzt laufen die Dinge anders, hier. Ich bin nämlich jetzt der Clanchef.«
Ich drehe mich zur Wand.
»Und das bedeutet«, fährt Rocky fort, »ab sofort werde ich die Grabungen koordi… Also, ab jetzt hab ich hier die Chefmütze auf. Und du …« Wo solche geologischen Kräfte wüten, ist ein gewisser Abrieb zwischen den Gesteinsplatten unvermeidlich. »Du wirst mitgraben.«
Sagte ich eben, meine Müdigkeit sei nicht mehr steigerbar? War gelogen. »Es gibt nichts mehr zu graben«, seufze ich.
»Was soll ’n das jetzt schon wieder heißen?«
»Okay, Clanchef, Sir«, sage ich, »versuchen wir es andersherum: Wonach willst du, dass ich graben soll?«
»Ähm … Brauchen wir nicht noch eine Leiche?
»Da ist keine Leiche mehr, Rocky.«
»Nicht?«
»Nein. Leichen sind alle.«
Offenbar ist er wild entschlossen, sich nicht von seinem Vorhaben abbringen zu lassen. »Ist egal«, entscheidet er. »Wenn ich sage, dass du gräbst, dann gräbst du.«
»Leck mich, Rocky.«
Eine Millisekunde, bevor mich seine Kralle am Ohr trifft und gegen die Wand schleudert, höre ich die Luft sirren. Aber es hilft nichts mehr. Ist genau wie mit den Schritten im Flur. Wenn du sie hörst, ist es zu spät. Kopfschmerzen zu haben ist keine schöne Sache, aber Kopfschmerzen, die bereits vorhandene Kopfschmerzen zu einer riesigen Glocke anschwellen lassen, die wie Big Ben in deinem Schädel dröhnt, sind ganz und gar unfein.
»Danke, Chef«, sage ich und rücke meinen Kopf in die alte Position zurück.
»Wir sehen uns«, meint Rocky.
Dann ist es still.
Endlich.
Bis zwei Minuten später Rufus von seiner Unterredung zurückkommt: »Phil lässt dir ausrichten, dass er die Papiere checken und sich dann bei dir melden wird. Ich soll dir außerdem danke sagen.« Rufus hält inne. Da kommt noch was. »Und dass das Leben weitergeht – ob man will oder nicht. Dass jeder Tag ein neuer Anfang ist, ob es dir nun in den Kram passt oder nicht.«
Alles, was mir zu meinem Glück noch gefehlt hat: die Lebensweisheiten eines traurigen Trinkers. Und bedanken tut er sich neuerdings auch noch.
»Elsa?«
Sie schläft. Meine unerreichbare Geliebte schläft so fest, wie eine Frau nur schläft, nachdem sie guten Sex hatte. Ich kann es riechen. Jeder Atemzug fährt mir in die Brust wie ein Skalpell.
Es ist Nacht. Die wärmste Nacht des Jahres. Eine Wärme, die eine Sehnsucht in einem entfacht, ein Fernweh einpflanzt. Sag ich jetzt mal so. Kann natürlich auch nur Einbildung sein. Schließlich teile ich das klassische Immigrantenschicksal: Du trägst die Wurzeln deines Landes in dir, auch wenn du es noch nie gesehen hast. Kannst du nichts gegen machen. Ist etwas, das durch Vererbung weitergegeben wird.
»Elsa?«, flüstere ich.
Sie liegt dicht am Gitter, kaum mehr als eine Beinlänge entfernt, auf dem Rücken, den Körper wollüstig gekrümmt, die Pfoten abgespreizt, den langen, zarten Schwanz so gebogen, dass er notdürftig ihre Scham bedeckt. Ihr weißes Bauchfell schimmert im Mondlicht. Bei jeder anderen Gelegenheit würde dieser Anblick eine leidenschaftliche, fleischliche Gier von apokalyptischen Ausmaßen in mir entfachen. Heute Nacht jedoch spüre ich nur ein selbstmitleidiges Bedauern. Hardcore. Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden. In diesem Zoo ist kein Platz mehr für mich.
Aus Angst, den schnarchenden Fellberg zu wecken, der neben ihr liegt, wage ich nicht, sie noch einmal anzusprechen. Stattdessen recke ich mein Vorderbein durch das Gitter und versuche, sie zu berühren, nur einmal ihr seidiges Fell zu streicheln, in der Hoffnung … Mein Bein ist zu kurz. Es fehlt nicht viel, ein Zweig würde schon reichen. Ich suche den Hügel ab, finde eine abgeknickte Kugelschreibermine, schleiche mich zu Elsas Käfig zurück, schiebe vorsichtig mein Vorderbein durch die Gitterstäbe, recke mich und bin kurz davor, Elsa zu wecken, als … Giacomos Vorderpfote mein Bein unter sich zerquetscht.
Eigentlich sollte ich einem Kurzschwanzchinchilla in der Zeit zwischen zwei Atemzügen das Fell über die Ohren ziehen können – schließlich habe ich messerscharfe Krallen, während er den ganzen Tag seine Samtpfötchen leckt. Doch Giacomo ist die Ursula unter den Chinchillas, weshalb ich jetzt zwischen den Gitterstäben klemme, weder vor noch zurückkann, und mein Vorderbein, sollte Giacomo es je wieder freigeben, einen Abdruck im Beton hinterlassen wird. Wie kommt einer wie der überhaupt vom Fleck? Hat der irgendwo
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