Ausgefressen
IO G 3 «, stellt mir Phil seine Geheimwaffe vor, während er sich ein paar Latexhandschuhe überstreift. »Ist eigentlich ein notfallmedizinisches Gerät, um Schädel zu punktieren. Klein, fein und nahezu« – er drückt den Schalter, und die Bohrnadel beginnt, kaum hörbar zu sirren – »lautlos.«
»Lass mich raten«, sage ich, »du machst so etwas heute zum ersten Mal.«
»Aber sicher.«
»Letzte Frage: Ist das nicht …«
Phil zieht eine Augenbraue in die Höhe. Die linke, glaube ich. Mit rechts und links hab ich es nicht so. Sieht echt verdammt lässig aus. Vielleicht, wenn ich regelmäßig übe …
»… verboten?«, bringe ich meine Frage zu Ende.
»Yep.«
»Das heißt, wenn wir dabei erwischt werden, kriegen wir Ärger, richtig?«
Phil schmunzelt und wendet sich dem Schließzylinder zu. »Da sagt der kleine Scheißer tatsächlich
wir
…«, brabbelt er. Dann beginnt sein Schädelpunktierer zu sirren.
Nach kürzester Zeit hat Abus XP 2 S vor seinem Widersacher EZ - IO G 3 kapituliert, und Phil zieht die Wohnungstür hinter uns zu.
Wir sind beide irgendwie … ergriffen. Es sieht aus, als sei Rüdiger Rohloff nur mal eben zum Einkaufen raus. Neben dem Sessel mit dem Nierentisch und der stoffbespannten Stehlampe liegt ein aufgeschlagenes Heft mit zur Hälfte gelösten Kreuzworträtseln und Sudokus. An der Garderobe hängen auf Kleiderbügeln ein Regen- und ein Wintermantel, darunter zwei Paar Schuhe, deren Hacken sich berühren. Die Daunendecke im Schlafzimmer ist zurückgeschlagen, der Pyjama sorgfältig über das Fußteil gelegt. In der Küche stehen ein Teller und ein Glas auf der Abtropffläche der Spüle, daneben ragt ein Messer aus einem Drahtkorb.
Phil findet mich auf der Anrichte, wo mein Blick sich in den Borsten des Pinsels verliert, mit dem Rüdiger Rohloff offenbar seine elektrische Kaffeemühle gereinigt hat. Ich drehe ihn geistesabwesend in den Klauen.
»Alles in Ordnung?«, fragt Phil, während er Schubladen aufzieht und Teller und Tassen beiseiteschiebt.
»Monatelang lag Rüdiger Rohloff unter der Erde …«
Phil stöbert zwischen den Konserven in der Speisekammer herum. »Und?«
»Und keiner hat es gemerkt.«
Er kommt aus der Speisekammer, stellt zwei Dosen neben mir ab und legt den Kopf schief. »Kriegst du gerade den Blues?«
Ich deute mit dem Kaffeepinsel auf die Dosen: »Was ist das?«
»Thunfisch. Wär schade drum.«
»Du willst den Thunfisch von Rüdiger Rohloff essen?«
»Glaubst du, er hat was dagegen?« Phil nimmt mir vorsichtig den Pinsel aus der Hand und lässt ihn in die aufgezogene Schublade fallen. »Du kriegst gerade den Blues, stimmt’s?«
»Im Altenheim …«, setze ich an.
»Senioren-Wohnpark«, verbessert mich Phil.
»Scheißegal, Mann. Da haben sie jedenfalls eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Und der Schirrmacher hat wenigstens einen Sohn gehabt, der sich seine Wohnung unter den Nagel gerissen hat. Hier aber …«
Phil nimmt die Thunfischdosen, verstaut sie in seiner Tasche und öffnet den Kühlschrank.
»Hier gibt es nicht mal jemanden, dem wir sagen
könnten
, dass er tot ist.«
Als Phil sich zu mir umdreht, hat er eine Flasche in der Hand. Bevor er auch die in seiner Tasche verschwinden lässt, sagt er: »Kannst du mir verraten, weshalb jemand wie Rüdiger Rohloff einen Veuve Clicquot Rosé im Kühlschrank hat?«
Die Antwort darauf finden wir später, zufällig, als keiner von uns mehr daran glaubt, dass wir in dieser Wohnung noch irgendeinen nützlichen Hinweis zutage fördern werden. Sie ist auf einem Foto verborgen, das an einer Glasschale im Bücherregal lehnt. Die Aufnahme stammt von einem Automaten. Einem Automaten, den ich kenne. Er steht im Zoo, gegenüber des Antilopenhauses. Für zwei Euro können sich die Besucher vor dem Vierwaldstätter See fotografieren lassen. Und genau da steht er, Rüdiger Rohloff, alt, aber trotzdem irgendwie jung, und lächelt in die Kamera. Entfernt, im Hintergrund, sieht man zwei Flamingos und Beas Eiswagen. Das Bild wurde vor etwa einem Jahr aufgenommen, letzten Sommer. Das weiß ich, weil Bea ihren Eiswagen letzten Sommer mit lauter bunten Plastikblumen dekoriert hat – von denen ich heute schon einmal eine gesehen habe: Im Karton mit den letzten Habseligkeiten von Jürgen Becker, im Keller des Senioren-Wohnparks Blumengarten.
»Phil!«, rufe ich.
Er kommt aus dem Schlafzimmer herübergeschlurft.
»Ich glaube, ich hab so eine Ahnung, wer die kleine Schlampe sein könnte, von der
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