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Ausgefressen

Ausgefressen

Titel: Ausgefressen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Matthies
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dreht den Zündschlüssel, und der Wagen füllt sich mit dieser Musik, die mir schon die ganze Herfahrt über auf die Nerven gegangen ist. Eine mumienhafte Männerstimme mit Klavierbegleitung – alles gesehen, alles erlebt, traurig, macht aber trotzdem einen auf dicke Hose. Ich bin froh, dass ich die Sprache von dem Jammerlappen nicht verstehe. Könnte wetten, er singt über eine vergangene Liebe.
    »Wer issn das?«, frage ich.
    »Paolo Conte«, antwortet Phil, »der ›singende Anwalt‹. Italiener …«
    Das erklärt natürlich alles.
    »Wieso«, fragt Phil, »gefällt’s dir nicht?«
    »Kann Italiener nicht ausstehen.«
     
    Die Pflügerstraße ist eine nette, gepflasterte Seitenstraße mit Bäumen zu beiden Seiten. In dem Haus, das wir suchen, befinden sich ein Tattoo- und Piercingstudio sowie ein Backgammon Klub e.V., zu dem Phil nur das Wort »Geldwäsche« einfällt. Die meisten Klingelschilder sind verkokelt, zerkratzt, unleserlich oder gar nicht beschriftet. Mit Ausnahme des Schildes, auf dem »Schirrmacher« steht. Das gepflegteste Klingelschild gehört zu einem Mann, der seit mindestens vier Monaten tot ist. Phil drückt den oberen Klingelknopf auf der Leiste.
    »Hallo?«, knarzt eine blecherne Frauenstimme aus dem Kasten.
    »Hausverwaltung«, entgegnet Phil, »wir müssten mal einen Blick in den Hof werfen.«
    »Das wird aber auch Zeit«, bläkt die Stimme.
    Danach ist Ruhe.
    »Aufmachen wär’ nicht schlecht«, bemerkt Phil.
    Der Türsummer geht.
    Phil sieht sich im Hausflur um. Es gibt einen Briefkasten mit der Aufschrift »Schirrmacher«, der offenbar regelmäßig geleert wird, außerdem klebt ein Zettel an der Wand, eine Bekanntmachung, wie Phil mir erklärt. Nächste Woche wird für zwei Tage das Gas abgesperrt.
    »Na, dann wollen wir mal«, sagt Phil und steigt die Stufen empor.
    A. Schirrmacher, der Mann, der seit geschätzten vier Monaten tot ist, wohnt im zweiten Stock. Besagt jedenfalls das Namensschild neben der Tür. Sagt Phil. Er klingelt, wartet, klopft, wartet, klingelt wieder. Hinter der Tür schlurft es.
    »Was gibt’s denn?«, grollt eine Stimme, die durch jahrzehntelangen, extensiven Zigarettenkonsum geformt wurde.
    »Herr Schirrmacher?«, fragt Phil.
    »Geht Sie das was an?«
    »Wir sind von der Hausverwaltung. Es geht u…«
    »Wir ziehen nich aus – und wenn Sie sich uffn Kopp stellen!«
    »Hat der gerade ›wir‹ gesagt?«, flüstert Phil mir zu.
    »Hat er«, gebe ich zur Antwort.
    Phil erhebt wieder seine Stimme: »Es geht um die Gassperrung nächste Woche … Herr Schirrmacher? Können Sie nicht mal die Tür aufmachen, bitte – dann muss ich hier nicht das gesamte Treppenhaus zusammenbrüllen.«
    Die Tür wird geöffnet – gerade so weit, wie die Vorhängekette reicht. Der Teil des Gesichts, der im Spalt erscheint, ist vermutlich Ende vierzig, sieht aus wie siebzig und riecht nach … blauen Gauloises.
    »Sind Sie Alois Schirrmacher?«, fragt Phil.
    »Ich lass hier keinen rein.«
    »Nach unseren Unterlagen wohnt hier ein Herr Alois Schirrmacher. Sollten Sie nicht dieser Alois Schirrmacher sein, dann …«
    »Ich hab’s doch der Hauswartstussi am Telefon schon erklärt: Mein Vater ist verreist, und jetzt wohn’ ich hier mit meiner Familie. Ich hab mich erkundigt: Wenn mein Vater nicht zurückkommt, können wir den Mietvertrag übernehmen – das is unser Recht!«
    »Wo ist denn Ihr Vater?«
    »Das sollten sie besser die kleine Schlampe fragen, die ihn ausgenommen hat.«
    »Welche kleine Schl…?«
    »Seh ich aus wie ’n Informationsschalter?«
    »Sie wissen nicht, wo Ihr Vater ist, sind aber schon mal vorsorglich in seine Wohnung gezogen?«
    »Hörnse: Mein Vater ist verreist, und bis er zurückkommt, wohnen wir hier. Wenn Sie sonst noch was aufm Herzen haben« – er macht eine Bewegung, als halte er einen Stift in der Hand und kritzele irgendwas – »schriftlich.«
    »
Sie
können lesen?«, fragt Phil, doch bevor er mit der Frage fertig ist, kracht die Tür bereits ins Schloss.
    Wir stehen auf dem Treppenabsatz, als warteten wir auf etwas. Es passiert aber nichts. Gar nichts.
    »Hätten wir ihm nicht sagen sollen, dass sein Vater tot ist?«, frage ich zaghaft.
    »Hat mir nicht den Eindruck gemacht, als interessiere ihn das«, entgegnet Phil.
    Ich überlege: »Ein Typ, der sich mit seiner Familie in der Wohnung seines Vaters einzeckt, ohne zu wissen, wo der hin ist.«
    »Das erklärt jedenfalls, warum niemand den guten Alois vermisst hat.«
    »Glaubst du,

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