Ausgeliefert: Roman (German Edition)
unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt; man hatte ihm sogar zu essen gegeben. Nicht sonderlich gut, aber das war wohl eher auf mangelnde Geschicklichkeit und nicht so sehr auf aktive Bosheit zurückzuführen. In physischer Hinsicht hatte er also keine Klagen.
Mental betrachtet war es völlig anders. Er steckte in einem Vakuum, das beinahe ebenso undurchdringlich war wie die Dunkelheit, die in dem Kuhstall herrschte. Das Problem war das völlige Fehlen jeglicher Information. Nicht dass er ein Mensch gewesen wäre, der sich notwendigerweise unbehaglich fühlte, wenn ihm einige Informationen fehlten. Er war der Sohn eines Offiziers bei den Marines und hatte praktisch seit seiner Geburt das Militärleben kennen gelernt und gelebt. Schon deswegen war er an Konfusionen gewöhnt und auch an die Tatsache, dass er nie wusste, was morgen geschehen würde. Allerdings war in dieser Nacht zu viel unklar.
Er wusste nicht, wo er war. Ob das nun Zufall oder Absicht war, die drei Entführer hatten ihm jedenfalls auch nicht den leisesten Hinweis darauf geliefert, wo die Reise hinging. Das ließ in ihm das Gefühl aufkommen, einfach dahinzutreiben. Sein spezielles Problem war – da er ja von Geburt an das Militärleben gelebt hatte –, dass er von jenen dreizehntausendsiebenhundertundsechzig Tagen seines Lebens vermutlich weniger als ein Fünftel tatsächlich innerhalb der Vereinigten Staaten verbracht hatte. Er war genauso amerikanisch wie der Präsident, aber er hatte den größten Teil seines Lebens auf der ganzen Welt verbracht und dort seinen Dienst getan. Außerhalb der Vereinigten Staaten. Und deshalb kannte er sein eigenes Land etwa so gut wie der durchschnittliche Siebenjährige es kennt. Und konnte deshalb die subtilen Rhythmen und Gefühle und Gerüche Amerikas nicht so gut entziffern, wie er sich das wünschte. Möglicherweise hätte jemand anders die kaum erkennbaren Konturen der Landschaft oder die Art und Weise, wie sich die Luft oder die Nachttemperatur anfühlte, interpretieren und sagen können, ja, ich befinde mich jetzt in diesem oder jenem Staat. Möglicherweise gab es Leute, die dazu imstande waren. Aber Reacher war das nicht. Und das war ein Problem für ihn.
Hinzu kam, dass er keine Ahnung hatte, wer die Entführer waren. Oder was sie vorhatten. Er hatte sie aufmerksam studiert, und zwar bei jeder Gelegenheit, die sich ihm geboten hatte. Daraus Schlussfolgerungen zu ziehen war jedoch schwierig. Was er wahrgenommen hatte, war völlig widersprüchlich. Es waren drei Männer – jung, vielleicht irgendwo zwischen dreißig und fünfunddreißig, fit und offensichtlich darauf trainiert, mit einer gewissen Effizienz zusammenzuarbeiten. Ihr Verhalten war beinahe militärisch, aber nicht ganz. Sie waren organisiert, aber nicht militärisch. Ihr Äußeres verkündete deutlich: Amateure.
Weil sie so ordentlich waren. Sie hatten alle saubere Kleidung, schlichtes Baumwoll- und Popelinzeug aus einem Kettenladen, und einen ordentlichen Haarschnitt. Ihre Waffen waren frisch aus dem Karton. Die Glocks waren nagelneu, ebenso die Schrotflinte, man konnte sogar noch das Öl erkennen,
mit dem man sie in der Fabrik eingeölt hatte. Das waren Faktoren, die darauf hindeuteten, dass es sich nicht um irgendwelche Profis handelte. Weil Profis so etwas jeden Tag tun. Wer auch immer sie sind, Special Forces, CIA, FBI, Detectives, es ist ihr Beruf. Sie tragen Arbeitskleidung. Sie benutzen Waffen, die man ihnen letztes Jahr oder im Jahr davor zugeteilt hat und für die sie unterschrieben haben; erprobte und vertraute Waffen, abgewetzte Waffen, verkratzte Waffen, eben Werkzeug. Man nehme sich an jedem beliebigen Tag drei Profis vor, und man wird am Hemd des einen die Pizza von gestern Abend sehen, ein anderer wird sich nicht rasiert haben, und der dritte wird die schrecklichen alten Hosen tragen, über die seine Kollegen sich hinter seinem Rücken lustig machen. Es ist durchaus möglich, dass man hie und da auch ein neues Jackett sieht oder eine nagelneue Waffe oder neue Schuhe, aber die Wahrscheinlichkeit, dass man an drei Profis am gleichen Tag nur neue Sachen sieht, ist so gering, dass sie geradezu als absurd gelten kann.
Auch ihr Verhalten verriet sie. Kompetent, aber nervös, angespannt, feindselig, grob. In einem gewissen Maße ausgebildet, aber nicht geübt. Nicht erfahren. Sie hatten ihre Theorie trainiert und waren intelligent genug, um grobe Fehler zu vermeiden, aber sie hatten nicht das Gewohnheitsmäßige von Profis an sich.
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