Ausgeliefert: Roman (German Edition)
Versuch, sie loszuwerden, zu interpretieren. Jetzt wurde Brogan seinerseits ärgerlich. Er erklärte ihr, dass das Büro Vorrang haben müsse. Das könne sie doch sicherlich begreifen? Um halb sechs Uhr morgens nicht gerade das beste Argument gegenüber einer verschlafenen, verärgerten Frau. Es gab eine kurze verbale Auseinandersetzung, dann legte Brogan deprimiert auf.
Sein Partner Milosevic saß allein in seiner kleinen Bürozelle. Hing vornübergesunken in seinem Sessel und war ebenfalls deprimiert. Sein Problem war Mangel an Vorstellungsvermögen und Fantasie. Das war seine größte Schwäche. McGrath hatte ihn angewiesen, er solle jeden Schritt verfolgen, den Holly Johnson seit gestern Mittag getan hatte. Aber er hatte nichts gefunden. Er hatte gesehen, wie sie aus dem FBI-Gebäude auf die Straße hinausgegangen war, den Unterarm in der gebogenen Metallstütze der Gehhilfe aus dem Krankenhaus. So weit hatte er sie gehen sehen. Aber dann verschwamm
das Bild, brachte nichts mehr. Die ganze Nacht durch hatte er intensiv nachgedacht, ohne McGrath etwas sagen zu können.
Um drei viertel sechs ging er auf die Toilette und holte sich anschließend frischen Kaffee. Fühlte sich immer noch erbärmlich. Ging zu seinem Schreibtisch zurück. Setzte sich, sinnierte eine Weile. Dann warf er einen Blick auf die schwere goldene Armbanduhr, die er trug. Sah nach, wie spät es war. Lächelte. Fühlte sich besser. Sinnierte wieder. Jetzt konnte er McGrath sagen, wo Holly Johnson gestern um zwölf Uhr mittags hingegangen war.
Siebzehnhundertundzwei Meilen von ihnen entfernt war jemand in Panik geraten. Die ersten Stunden war der Zimmermann von einer Art lähmendem Schock erfasst gewesen. Das hatte ihn schwach und in sein Schicksal ergeben gemacht. Er hatte sich von dem Auftraggeber die Treppe hinauf und in den Raum treiben lassen. Seine Benommenheit hatte ihn die ersten paar Stunden vertrödeln lassen, und er hatte nur dagesessen und die Wände angestarrt. Und dann war in ihm plötzlich so etwas wie verrückter Optimismus aufgekommen, und er hatte sich eingeredet, diese ganze Geschichte sei bloß ein schlechter Halloween-Scherz. Und das wiederum hatte dazu geführt, dass er die nächsten Stunden damit vergeudet hatte, sich der Überzeugung hinzugeben, dass gar nichts geschehen würde. Aber dann war das eingetreten, was allen eingeschlossenen Gefangenen unvermeidlich widerfährt, wenn die frühen Morgenstunden kommen, und er war sich darüber klar geworden, dass er nichts besaß, womit er sich wehren konnte. Er hatte zu zittern angefangen, und panische Verzweiflung erfasste ihn.
Jetzt war die Hälfte der ihm zur Verfügung stehenden Zeit vorbei, und bei ihm setzte hektische Aktivität ein. Aber er wusste, dass es hoffnungslos war. Die Ironie des Ganzen war niederschmetternd. Sie hatten hart an diesem Raum gearbeitet. Sie hatten ihn gut und fachmännisch gebaut. Die ganze Zeit hatten sie Dollarzeichen vor sich in der Luft tanzen sehen. Sie hatten an nichts gespart und auf all die üblichen Schlampereien
ihres Berufsstandes verzichtet. Jedes einzelne Brett war gerade und sauber eingefügt. Jeder einzelne Nagel war bis unter die Maserung eingeschlagen. Es gab keine Fenster. Die Tür war massiv. Es war hoffnungslos. Er rannte eine volle Stunde lang wie ein Verrückter in dem absolut leeren Raum herum, strich mit seinen rauen Händen über jeden Quadratzoll jeder Fläche. Boden, Decke, Wände. Es war die beste Arbeit, die sie je geleistet hatten. Am Ende kauerte er zusammengekrümmt in einer Ecke, starrte seine Hände an und weinte.
»Die Reinigung«, sagte McGrath. »Dort ist sie hingegangen.«
Er saß in dem Konferenzraum im zweiten Stock. Am Kopfende des Besprechungstisches, sieben Uhr, Dienstag Morgen. Riss ein frisches Päckchen Zigaretten auf.
»Tatsächlich?«, fragte Brogan. »Die Reinigung?«
McGrath nickte.
»Sagen Sie es ihm, Milo«, wies er an.
Milosevic lächelte.
»Ich habe mich gerade daran erinnert«, sagte er. »Ich habe schließlich fünf Wochen mit ihr zusammengearbeitet, nicht wahr? Seit der Sache mit ihrem Knie. Jeden Montag in der Mittagszeit bringt sie ihre Reinigungssachen weg. Und holt die von der letzten Woche ab. Ich wüsste nicht, warum das gestern anders gewesen sein sollte.«
»Okay«, sagte Brogan. »Welche Reinigung?«
Milosevic schüttelte den Kopf.
»Weiß ich nicht«, sagte er. »Sie ist immer alleine gegangen. Ich habe mich zwar erboten, das für sie zu erledigen, aber sie hat
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