Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausgeliefert: Roman (German Edition)

Ausgeliefert: Roman (German Edition)

Titel: Ausgeliefert: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
Vom Netzwerk:
lachte, ein kurzes, nervös wirkendes Lachen.
    »Ja, das hab ich mir gerade überlegt«, sagte er.
    »Also brauchen Sie einen Anreiz«, sagte der Auftraggeber. Kapiert? Um sicherzustellen, dass Sie sich wirklich echt anstrengen, rauszukommen.«
    Der Zimmermann blickte an dem Gebäude empor, zu dem Raum im ersten Stock an der Ecke. Als er wieder herunterschaute, hielt der Auftraggeber eine stumpf schimmernde schwarze Automatik in der Hand.
    »In dem Truck ist ein Sack«, sagte der Auftraggeber. »Holen Sie den doch mal, ja?«
    Der Zimmermann sah sich bloß erstaunt um. Der Auftraggeber richtete die Waffe auf seinen Kopf.
    »Sie sollen den Sack holen«, sagte er leise.
    Auf der Ladefläche des Pickup lag nichts. Dafür gab es einen Rupfensack auf dem Beifahrersitz. Zusammengewickelt und vielleicht einen halben Meter lang. Der Sack war schwer. Er fühlte sich an, als würde man im Supermarkt in die Tiefkühltruhe greifen und eine Schweinehälfte herausholen.
    »Machen Sie ihn auf!«, rief der Auftraggeber. »Sehen Sie mal rein.«
    Der Zimmermann zog den Rupfensack auseinander. Das Erste, was er sah, war ein Finger. Eisig weiß, weil er kein Blut
mehr enthielt. Mit auffälligen gelben Schwielen, wie Arbeiterhände sie aufwiesen, groß und nicht zu übersehen.
    »Ich werde Sie jetzt in den Raum bringen«, erklärte der Auftraggeber. »Wenn Sie bis morgen nicht rauskommen, mache ich das hier auch mit Ihnen, okay? Mit Ihrer eigenen verdammten Motorsäge, weil die meine stumpf geworden ist, als ich mich mit dem Kerl beschäftigt habe.«

9
    Reacher lag still und ohne sich zu bewegen auf dem schmutzigen Stroh in seiner Box in dem Kuhstall. Er schlief nicht, aber seine Körperfunktionen waren so weit abgeschaltet, dass er ebensogut hätte schlafen können. Jeder Muskel war entspannt, sein Atem ging langsam und regelmäßig. Seine Augen waren geschlossen, weil es im Stall dunkel war und es nichts zu sehen gab. Aber sein Verstand war hellwach. Er raste nicht etwa, aber er powerte mit jener ganz besonderen Nacht-Intensität, die einem zuteil wird, wenn nichts anderes einen ablenkt.
    Zwei Dinge tat er dabei gleichzeitig. Zum einen achtete er darauf, wie die Zeit verstrich. Seit er zuletzt auf die Uhr gesehen hatte, waren wenigstens zwei Stunden vergangen, aber er hätte auf zwanzig Sekunden genau sagen können, wie spät es war; eine Fähigkeit, die er seit langer Zeit besaß und die in vielen durchwachten Nächten im aktiven Dienst herangereift war. Wenn man darauf wartet, dass etwas passiert, dann schließt man seinen ganzen Körper ab, so wie ein Strandhaus im Winter, und hakt sein Bewusstsein in den gleichmäßigen Rhythmus der verstreichenden Sekunden ein. Es ist so etwas Ähnliches wie Winterschlaf. Es spart Energie, nimmt dem Unterbewusstsein die Verantwortung für den Herzschlag ab und überträgt diese einer Art versteckten Uhr. Dabei entsteht ein riesiger schwarzer Raum, in dem man denken kann. Und man bleibt hinreichend wach, um für alles bereit zu sein, wofür man eben bereit sein muss.
    Das zweite, was Reacher gleichzeitig tat, war, eine Art mentales arithmetisches Spiel zu spielen. Er multiplizierte im Kopf große Zahlen. Er war siebenunddreißig Jahre und acht
Monate alt, fast auf den Tag genau. Siebenunddreißig multipliziert mit dreihundertfünfundsechzig ergab dreizehntausendfünfhundertfünf. Plus zwölf Tage für Schaltjahre ergab dreizehntausendfünfhundertundsiebzehn. Die acht Monate von seinem Geburtstag im Oktober bis zum augenblicklichen Datum im Juni zählten zweihundertdreiundvierzig Tage. Insgesamt also dreizehntausendsiebenhundertundsechzig Tage seit seiner Geburt. Dreizehntausendsiebenhundertundsechzig Tage, dreizehntausendsiebenhundertundsechzig Nächte. Er versuchte diese ganz spezielle Nacht irgendwo auf jener endlosen Reihe zu platzieren. Eine Rangstufe dafür zu finden, wie schlimm sie war.
    In Wahrheit war es wirklich nicht die beste Nacht, die er je verbracht hatte, aber auch weit davon entfernt, die schlimmste zu sein. Sehr weit. Aus den ersten ungefähr vier Jahren seines Lebens konnte er sich an überhaupt nichts erinnern, so dass ihm etwa zwölftausenddreihundert Nächte blieben. Diese ganz spezielle Nacht befand sich mit einiger Wahrscheinlichkeit im oberen Drittel. Ohne sich besondere Mühe zu geben, hätte er Tausende von Nächten nennen können, die schlimmer als diese hier gewesen waren. Heute war ihm warm, er war nicht verletzt, lag einigermaßen behaglich da und sah sich keiner

Weitere Kostenlose Bücher