Ausgeliefert: Roman (German Edition)
als der Lieferwagen wieder auf die Fahrspur rollte.
Das erste, was Reacher hörte, als seine Ohren wieder funktionierten, war das leise Pfeifen der durch die hundert Löcher im Dach strömenden Luft. Es wurde im Laufe der vielen Meilen immer lauter. Hundert schrille Pfeifen, jeweils ein paar Halbtöne voneinander entfernt, wie schrilles Vogelgezwitscher.
»Verrückt, stimmt’s?«, sagte Holly.
»Ich oder die?«, fragte er, nickte aber, wie um sich zu entschuldigen. Sie nickte ebenfalls und setzte sich dann mühsam auf. Benutzte beide Hände dazu, ihr Knie gerade zu schieben. Durch die Löcher im Dach fiel Licht herein. Genug Licht, dass Reacher ihr Gesicht deutlich sehen, ihren Ausdruck interpretieren konnte. Er sah das Flackern von Schmerz. Als würde sich ein Vorhang über ihre Augen schieben und dann wieder in die Höhe gleiten. Er kniete nieder und fegte die Schrotkugeln von der Matratze. Sie klapperten auf dem geriffelten Boden.
»Jetzt müssen Sie weg«, sagte sie. »Sonst bringen die Sie um.«
Die grellen, unregelmäßig durch die Löcher im Dach hereinfallenden Lichtstrahlen tanzten über ihr Haar.
»Ich meine das ernst«, sagte sie. »Ob qualifiziert oder nicht, ich kann nicht zulassen, dass Sie bleiben.«
»Ich weiß, dass Sie das nicht können«, sagte er.
Er benutzte sein Hemd dazu, die Schrotkörner zu einem kleinen Häufchen bei der Tür zusammenzufegen. Dann schob er die Matratze zurecht und legte sich wieder hin. Schaukelte mit der Fahrtbewegung. Starrte die Löcher im Blech über ihm an. Sie wirkten wie die Karte irgendeiner fernen Galaxie.
»Mein Vater wird das Notwendige unternehmen, um mich zurückzubekommen«, sagte Holly.
Es war jetzt schwerer miteinander zu reden als vorher. Zu dem Dröhnen des Motors und dem Poltern der Straße kam das schrille Pfeifen im Dach hinzu. Ein volles Geräuschspektrum. Holly legte sich neben Reacher. Legte den Kopf neben den seinen. Ihr Haar fiel auseinander, streifte seine Wange und fiel auf seinen Hals. Sie wand sich in den Hüften und legte ihr Bein zurecht. Zwischen ihnen beiden war immer noch ein Zwischenraum, bestand immer noch die sittsame V-Anordnung, aber der Winkel war jetzt etwas kleiner als vorher.
»Aber was kann er unternehmen?«, fragte Reacher. »Das müssen Sie mir erklären.«
»Sie werden irgendeine Forderung stellen«, sagte sie. »Sie wissen schon, tun Sie dies oder tun Sie jenes, sonst tun wir Ihrem Mädchen weh.«
Sie sprach langsam, und Reacher hörte das Zittern in ihrer Stimme. Er ließ seine Hand in den Zwischenraum zwischen ihnen beiden fallen und fand die ihre. Griff danach und drückte sie sanft.
»Das macht keinen Sinn«, sagte er. »Überlegen Sie doch. Was tut Ihr Vater denn? Er führt die Langzeitpolitik der Regierung aus und ist für kurzfristige Bereitschaft verantwortlich. Der Kongress und der Präsident und der Verteidigungsminister bestimmen die langfristige Politik, stimmt’s? Wenn der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs sich ihnen in den Weg stellen würde, dann würden sie ihn einfach ersetzen. Ganz besonders wenn sie wissen, dass er unter dieser Art von Druck steht, habe ich recht?«
»Was ist mit kurzfristiger Bereitschaft?«, meinte sie.
»Da gilt das Gleiche«, sagte Reacher. »Er ist lediglich Vorsitzender eines Ausschusses. In diesem Ausschuss sitzen die einzelnen Stabschefs. Heer, Marine, Luftwaffe und die Marines. Wenn sie alle ein anderes Lied singen als das Ihres Vaters, wird das nicht lange geheim bleiben, oder? Sie würden ihn einfach eliminieren. Ihn völlig aus der Gleichung herausnehmen.«
Holly drehte den Kopf zur Seite, sah ihm gerade in die Augen.
»Sind Sie sicher?«, fragte sie. »Angenommen, diese Leute arbeiten für den Irak oder so etwas. Angenommen, Saddam will Kuwait wieder haben. Aber er will nicht noch einmal einen Wüstensturm. Also lässt er mich entführen, und mein Vater sagt, tut mir leid, militärisches Eingreifen geht nicht, aus allen möglichen erfundenen Gründen.«
Reacher zuckte die Schultern. »Das, was Sie gerade gesagt haben, ist bereits die Antwort«, erklärte er. »Die Gründe würden erfunden sein. Tatsache ist, dass wir jederzeit einen neuen Wüstensturm durchziehen könnten, wenn wir das müssten. Kein Problem. Jeder weiß das. Wenn Ihr Vater also anfangen würde, das in Abrede zu stellen, dann würde jeder wissen, dass das Quatsch ist, und jeder würde wissen, warum. Die würden ihn einfach vom Platz stellen. Beim Militär sind die Regeln hart,
Weitere Kostenlose Bücher