Ausgeliefert: Roman (German Edition)
ging am National Museum of American History vorbei, dann am National Museum of Natural History und bog nach links in die 9 th Street. Genau dreieinhalb Meilen an einem herrlichen Morgen, ein schneller Spaziergang durch eine der großen Hauptstädte der Welt, vorbei an Sehenswürdigkeiten, um die sich die Touristen mit ihren Fotoapparaten drängen – doch er sah absolut nichts, nur den düsteren Schleier der Sorge, der vor seinen Augen hing.
Nachdem er die Pennsylvania Avenue überquert hatte betrat er das Hoover Building durch den Haupteingang. Trat vor die Empfangstheke und stützte sich mit beiden Händen, die Handflächen nach unten, darauf.
»Der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs«, sagte er. »Ich möchte den Direktor sprechen.«
Seine Hände hinterließen auf der Kunststofffläche zwei handflächenförmige feuchte Flecken. Der Agent, der herunterkam, um ihn nach oben zu führen, bemerkte sie. Johnson sagte im Fahrstuhl kein Wort. Harland Webster erwartete ihn an der Tür seines Büros. Johnson nickte ihm zu. Sagte immer noch nichts. Webster trat zur Seite und lud ihn mit einer Handbewegung zum Eintreten ein. In seinem Büro war es dunkel. Die Wände waren teils mit Mahagoni vertäfelt, und die Vorhänge waren zugezogen. Johnson setzte sich in einen Ledersessel, und Webster ging um ihn herum zu seinem Schreibtisch.
»Ich möchte Ihnen nicht in die Quere kommen«, sagte Johnson.
Er sah Webster an. Der war einen Augenblick lang damit beschäftigt, diesen Satz zu entschlüsseln. Dann nickte er vorsichtig.
»Sie haben mit dem Präsidenten gesprochen?«, fragte er.
Johnson nickte. »Sie halten das doch auch für richtig?«
»Natürlich«, meinte Webster. »In einer solchen Situation sollte sich niemand um Protokollfragen den Kopf zerbrechen. Haben Sie ihn angerufen oder waren Sie bei ihm?«
»Ich war bei ihm«, sagte Johnson. »Mehrere Male. Ich hatte mehrere lange Gespräche mit ihm.«
Persönlich, dachte Webster. Mehrere lange Gespräche. Schlimmer, als ich gedacht hatte, aber verständlich.
»Und?«, fragte er.
Johnson hob die Schultern. »Er hat mir gesagt, dass er Ihnen die persönliche Befehlsgewalt übertragen hat«, erwiderte er.
Webster nickte. »Kidnapping«, sagte er. »Das ist FBI-Zuständigkeit, ganz gleich, wer das Opfer ist.«
Johnson nickte langsam.
»Das akzeptiere ich«, sagte er. »Für den Augenblick.«
»Aber Sie sind beunruhigt«, meinte Webster. »Glauben Sie mir, General, wir sind alle beunruhigt.«
Johnson nickte wieder. Und dann stellte er die Frage, die ihn dazu veranlaßt hatte, dreieinhalb Meilen zu Fuß zu gehen.
»Irgendwelche Fortschritte?«
Webster zuckte die Schultern.
»Das ist jetzt bereits der zweite Tag«, sagte er. »Mir gefällt die Sache überhaupt nicht …«
Dann verstummte er. Der zweite Tag einer Entführung ist eine Art Schwelle. Jegliche Chance einer frühen, schnellen Lösung ist dahin. Die Situation fängt an sich zu verhärten. Sie fängt an, zu einer langen und komplizierten Operation zu werden. Die Gefahr für das Opfer wächst. Der beste Zeitpunkt, um einen Entführungsfall zu lösen und das Opfer zu befreien, ist der erste Tag. Am zweiten Tag fängt alles an schwerfälliger zu laufen. Die Chancen werden geringer.
»Irgendwelche Fortschritte?«, wiederholte Johnson seine Frage.
Webster sah weg. Der zweite Tag ist derjenige, an dem die Entführer gewöhnlich Verbindung aufnehmen. Das war immer die Erfahrung des Büros gewesen. Am zweiten Tag sitzt man bedrückt und niedergeschlagen herum, weil man seine erste und beste Chance verpasst hat und verzweifelt darauf wartet, dass die Kidnapper anrufen. Wenn sie am zweiten Tag nicht anrufen, rufen sie möglicherweise überhaupt nicht an.
»Kann ich irgendetwas tun?«, fragte Johnson.
Webster nickte.
»Sie können mir einen Grund nennen«, sagte er. »Wer würde Sie so bedrohen?«
Johnson schüttelte den Kopf. Dieselbe Frage hatte er sich seit Montagabend immer wieder gestellt.
»Niemand«, sagte er.
»Sie sollten es mir sagen«, meinte Webster. »Irgendetwas Geheimes, Verborgenes – was es auch ist, Sie sollten es mir am besten jetzt gleich sagen. Das ist wichtig – für Holly.«
»Das weiß ich.« Johnson nickte. »Aber da gibt es nichts. Gar nichts.«
Webster glaubte ihm, weil er wusste, dass es stimmte. Er hatte die komplette Akte, die das Büro über Johnson führte, durchgesehen. Ein gewichtiges Dokument. Es begann auf Seite eins mit kurzen biografischen Angaben über seine
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