Ausgelöscht
wechseln sollte. Er wollte wirklich nicht, dass Billy sich zu intensiv mit Mord oder Selbstmord beschäftigte. »Zurück zu Casey«, sagte er. »Hast du wirklich keine Ahnung, warum sie so eifersüchtig ist, dass du dich mit anderen Mädchen triffst?«
»Ich bin nur mit denen unterwegs gewesen«, erwiderte Billy. »Es ist nicht das, was sie denkt.« Er starrte wieder durch die Windschutzscheibe.
Viel mehr würde er Billy nicht entlocken, schätzte Clevenger. »Wir können uns später darüber unterhalten«, sagte er.
»Klar«, antwortete Billy. »Später ist gut.«
6
17 Uhr 20
Billy aß bloß rasch etwas – dann zog er los, um sich mit Freunden zu treffen. Damit war Clevenger allein in dem 175-Quadratmeter-Loft, dessen vom Boden bis zur Decke reichende Bogenfenster Chelsea bei Nacht einrahmten, den alles dominierenden Strom der Autoscheinwerfer, der sich über die Tobin Bridge nach Boston bewegte, den Rauch eines nahe gelegenen zwanzig Stockwerke hohen Schornsteins, der durch das grüne Eisenskelett der Brücke waberte.
Unter der Brücke breiteten sich über eine Fläche von zwei Quadratkilometern Mietskasernen, Fabriken und backsteinerne Häuserzeilen aus, die Welle um Welle von Immigranten aufgenommen hatten, die nach Chelsea hineinschwappten, als wäre es ein zweiter Mutterleib – sie schickten ihre Kinder auf Chelseas Schulen, beantragten Stütze beim Sozialamt an der Everett Avenue, lernten die Sprache, fanden eine erste Anstellung in Chelseas Tankstellen, Schnapsläden und Lagerhäusern –, bis sie wieder geboren wurden und aus- und umzogen in wohlhabendere Orte wie Nahant, Marblehead und Swampscott.
Clevenger schaltete den Computer an, der auf dem Kiefernholzschreibtisch vor den Fenstern stand. Er wollte seine eigene Suche in Bezug auf John Snow, Collin Coroway und Snow-Coroway Engineering starten. Und er wollte so viel wie möglich über Grace Baxter herausfinden. Während er darauf wartete, dass das System geladen wurde, ging er zu Billys Tür hinüber und schaute in sein Zimmer. Die Hantelbank und die Gewichte standen in der Mitte. An einer Wand lag eine Matratze. An einer anderen türmten sich gut zweihundert CDs und DVDs. Kleidung quoll aus dem Kleiderschrank. Clevengers Blick fiel auf das Foto, das an der Schranktür hing, und er lächelte – es zeigte Billy und ihn an dem Tag, an dem Billy eingezogen war.
Die meiste Zeit war das Aufziehen eines gestörten Teenagers – selbst eines Teenagers, der so schwierig wie Billy war – eine erstaunlich lohnende Angelegenheit. Es gab Clevengers Dasein eine Struktur, in einer Weise, wie es nur durch das Übernehmen von Verantwortung für einen anderen Menschen möglich wird. Und Clevengers psychiatrische Ausbildung half ihm, sich mit der Tatsache abzufinden, dass das Leben mit Billy Gefühle der Isolation und Wut in ihm weckte, weil es ihn an seine eigene grausame Jugend, seinen eigenen sadistischen Vater erinnerte.
Der Teil des Vaterseins, für den Clevenger am wenigsten gerüstet war, war die Tatsache, dass das Aufziehen eines Teenagers einen tatsächlich isolierte. Man verwandte eine Menge Zeit und Energie auf einen anderen Menschen – einen Menschen, der kein Freund war, niemand, der einen nach einem schlechten Tag wieder aufrichtete oder an dem man seine miese Laune auslassen konnte.
Clevenger fand langsam heraus, wie einsam man sich in einem Zimmer neben seinem Kind fühlen konnte, selbst wenn man dieses Kind so sehr liebte wie er Billy. Und er konnte die Einsamkeit nicht mehr so einfach vertreiben wie früher.
Mit Frauen, zum Beispiel. Clevenger hatte in den letzten zwei Jahren verschiedene Affären gehabt, einschließlich einer wechselhaften Beziehung mit Whitney McCormick, der leitenden forensischen Psychiaterin des FBI, mit der er beim Jonah-Wrens-Fall zusammengearbeitet hatte. Doch er konnte sich nicht in einer Liebesbeziehung verlieren, nicht einmal mit ihr, obgleich sie noch immer durch seine Träume geisterte. Er konnte sich nicht einfach einer Frau hingeben und seine Ängste im Rausch der Leidenschaft vergessen. Wenn er seinem Sohn das Gefühl vermitteln wollte, dass er der Mittelpunkt seines Lebens war, bedeutete das, allein ins Bett zu gehen und allein aufzustehen. Es bedeutete, Liebesaffären als Teilzeitjobs zu führen.
Und dann war da seine wechselhafte Liebesaffäre mit Alkohol und Drogen. Er hatte es weniger belastend gefunden, sich selbst zuliebe nüchtern zu bleiben, Tag für Tag, als diese Verpflichtung im Namen des
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