Ausgelöscht
Kyle war ein absolut wonniges Kind. Aber als offensichtlich wurde, dass er anders war … Zuerst setzte John alle Hebel in Bewegung, um eine Lösung zu finden – um ihn zu reparieren. Mass General. Johns Hopkins. Er ist sogar mit ihm nach London gereist, für ein Programm, das computer-unterstütztes Lernen einsetzt. Als er feststellte, dass er ihn nicht normal machen konnte, begann er, ihn zu meiden.«
»Wie hat er das angestellt?«
»Er hat Kyle schon sehr früh auf Sonderschulen geschickt. Die erste war in Portsmouth, New Hampshire. Da war er sieben. Das bedeutete einen langen Tag für ihn, denn es kam ja immer noch die Fahrt dazu. Er verließ das Haus um sieben Uhr in der Früh und kam um sieben Uhr abends heim, manchmal sogar noch später. Von der sechsten Klasse an ging er auf ein Internat in Connecticut. Er lebt erst seit seinem Highschoolabschluss im Juni wieder ständig bei uns.«
Clevenger nickte. »Hatten Sie keine Einwände gegen die Schulwahl?«
»Mir hat die Idee nicht gefallen«, gestand sie. »Aber ich dachte – denke noch immer –, dass es für ihn besser war als die Alternative: Es hätte ihn völlig zerstört, wenn er mehr Zeit hier verbracht hätte und von John ignoriert worden wäre.«
»Hätte Ihr Mann nicht mit der Zeit gelernt, ihn mehr zu akzeptieren?«
»John nicht. Nein.«
Es sah nicht so aus, als ob Theresa Snow sich je gegen ihren Mann aufgelehnt hätte, selbst als er ihren lernschwachen Sohn für ein Jahrzehnt auf ein privates Internat außerhalb des Bundesstaates verbannte. Doch Clevenger wusste, dass sie ihm zumindest einmal die Stirn geboten und ihn gezwungen hatte, sich im Vorfeld der Operation einem Gutachten über seine Zurechnungsfähigkeit zu unterziehen. War das geschehen, weil sie wusste, dass es ihre letzte Chance war, ihn in ihrem Leben zu halten? Wusste sie, dass er im Begriff stand, sie zu verlassen? »Sind Sie dann nicht ein großes Risiko eingegangen, als Sie ihn gezwungen haben, sich einem psychiatrischen Gutachten zu unterziehen?«, fragte er. »Das muss ein schwerer Angriff auf sein Selbstbild gewesen sein. Er hätte sich gänzlich von Ihnen abwenden können.«
»Sie haben mit Dr. Heller gesprochen«, sagte sie. »Haben Sie Johns Krankenakte gesehen?«
»Ja«, sagte Clevenger.
Sie nickte. »Ihn zu dem Gutachten zu zwingen barg dieses Risiko«, sagte sie. »Ich war mir bewusst, dass er möglicherweise nie wieder mit mir sprechen würde. Doch ich musste wissen, ob er noch rational denken konnte. Er setzte sein Seh- und sein Sprachvermögen aufs Spiel. Und er hatte sich merkwürdig benommen, noch bevor er sich für die Operation entschieden hatte – beinahe euphorisch. Das war über Monate immer stärker geworden.« Sie zuckte mit den Achseln. »John hat sich nicht sonderlich gegen das Gutachten gewehrt. Ich bin überzeugt, dass er von Anfang an wusste, dass die Untersuchung feststellen würde, dass er bei klarem Verstand war. Wenn sie das nicht getan hätte, hätte ich vielleicht nie wieder von ihm gehört. John war immer ein großmütiger Sieger, aber kein guter Verlierer.«
»Es muss hart gewesen sein, einen Mann wie ihn zu lieben.«
»Nein«, entgegnete sie ohne Zögern. »Es war leicht, ihn zu lieben. Ich habe ihn verstanden. Er brauchte all seine Toleranz für Schwäche für eine Sache auf: seine Anfälle. Er konnte sie nur mit Mühe ertragen. Jeder Mangel an Ordnung war ihm ein Greuel. Das ist ein weiterer Grund, weshalb er niemals Selbstmord begangen hätte. Er hatte die Chance, sich von seinen Anfällen zu befreien. Diese Vorstellung erfüllte ihn mit Begeisterung.«
»Teilte er Ihre Bedenken in Bezug auf die Operation nicht?«
»Er hatte volles Vertrauen in Dr. Heller. Er kannte die potenziellen Nebenwirkungen, aber er glaubte nicht, dass er davon betroffen werden würde.«
Clevenger nickte nachdenklich. Es gab eine Nebenwirkung, von der John Snow voll und ganz erwartete, »betroffen« zu werden – Gedächtnisverlust. »Wenn Ihr Mann sich nicht selbst das Leben genommen hat«, fragte Clevenger, »wer hat es dann getan, Ihrer Meinung nach?«
Sie zögerte, doch nur kurz. »Ich habe Detective Coady dringend angeraten, sich auf Collin zu konzentrieren«, sagte sie.
Diese Antwort war eindeutiger, als Clevenger erwartet hatte. »Warum Collin?«, fragte er.
»John und er waren zerstritten über die Richtung, die das Unternehmen einschlagen sollte. Collin war sehr aufgebracht deswegen.«
»Stritten sie, ob Snow-Coroway in eine Aktiengesellschaft
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