Ausgelöscht
nicht weit hergeholt. Wenn Grace Baxter mit John Snows Baby schwanger gewesen war, wäre ihr Hass auf ihn, weil er sie und ihr gemeinsames Kind verlassen wollte, ein überzeugendes Mordmotiv. Und ihre Verzweiflung nach seinem Tod könnte zu einer psychologischen Implosion geführt haben.
Er erinnerte sich daran, dass er Coady erklärt hatte, warum Graces durchschnittene Kehle nicht zum Selbstmord einer Frau passte. Männer wählten die gewalttätigeren Methoden,
außer in Fällen, wenn die betreffende Person – Mann oder Frau – unter Wahnvorstellungen litt
. Er hatte ein Beispiel gegeben: eine Frau, die glaubt, dass das Blut des Teufels durch ihre Adern fließt. Doch was, wenn das Ding, das Grace hasste und von dem sie sich befreien wollte, kein Dämon war, sondern das neue Leben, das in ihr heranwuchs? Was, wenn sie das Baby nach Snows Tod als einen Eindringling betrachtete, als Blut von seinem Blut, das sich mit ihrem vermischte und sie vergiftete? Dann hätte sie nur noch den einen Drang verspürt, auszubluten. Ihm schwirrte von diesen Gedanken noch immer der Kopf, als er an die Rezeption trat.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ein freundlich aussehender Inder in den Dreißigern.
»Könnten Sie bitte in Collin Coroways Zimmer anrufen und ihm Bescheid sagen, dass ich hier bin?«
Der Mann rief die betreffende Datei in seinem Computer auf. »Und welchen Namen soll ich nennen?«
»Dr. Clevenger. Frank Clevenger.«
»Einen Moment bitte.« Er griff nach dem Hörer, rief das Zimmer an und lauschte. Zehn, fünfzehn Sekunden verstrichen. Er schüttelte den Kopf. »Er scheint nicht da zu sein.«
Clevenger schätzte, dass er besser daran tat, den Angestellten mit einzubeziehen. Das würde weniger Aufmerksamkeit erregen, als wenn er selbst herumschnüffelte. »Könnten Sie wohl den Portier fragen, ob Mr. Coroway einen Fahrdienst bestellt hat? Vielleicht kann ich ihn ja noch einholen.«
»Einen Moment.« Er wählte die Nummer des Portiers und fragte, ob Coroway das Hotelgelände verlassen habe. Er erhielt eine Antwort und legte auf. »Sie haben Glück. Er hat sich zur Pennsylvania Avenue 1300 fahren lassen. Dem Reagan-Gebäude. Soll ich Ihnen auch einen Wagen kommen lassen?«
Der wunderbare Service des Hyatt. »Bitte«, sagte Clevenger. »Dieselbe Firma, wenn das geht.«
Zum ersten Mal sah ihn der Mann etwas argwöhnisch an.
»Spesenkonto«, erklärte Clevenger augenzwinkernd.
»Selbstverständlich. Kein Problem, Sir.«
Keine Viertelstunde später war Clevenger in einem schwarzen Lincoln von Capital Limousine auf dem Weg zur Pennsylvania Avenue 1300. »Woher kommen Sie?«, fragte der Chauffeur, ein vierschrötiger Mann um die sechzig mit einem sonoren Bariton.
»Aus Boston«, antwortete Clevenger. »Und Sie?«
»Los Angeles.« Er kicherte. »Konnte das Wetter da nicht vertragen.«
Clevenger wusste, dass der Scherz eine Einladung war, nach dem wahren Grund für seinen Umzug zu fragen. Er hätte diese Einladung gern ignoriert, um sich ganz auf Snow und Baxter zu konzentrieren. Doch er hatte den Lebensgeschichten anderer noch nie widerstehen können. »War Ihnen wohl zu heiß dort«, griff er den Faden auf.
»Könnte man so sagen.«
Noch eine Einladung. »Nicht nur das Wetter, wollen Sie sagen.«
Der Chauffeur schüttelte den Kopf. »Eine Frau.«
»Schlecht gelaufen?«
»Schlechter als schlecht.«
Die Geschichte kam langsam in Schwung. »Ach?«, sagte Clevenger und lehnte sich zum Zuhören zurück.
»Hatte zwei Kinder, als ich sie kennen gelernt habe. Aber ich hab mich trotzdem auf den ersten Blick in sie verguckt. Verstehen Sie? Jedenfalls, ich bin ein gutes Jahr mit ihr zusammen. Alles ist bestens. Sie liebt mich. Ich liebe sie. Die Kinder nennen mich bereits Dad, was mir vielleicht zu denken hätte geben sollen, wo ihr richtiger Vater im Knast saß.« Er hob einen Finger, um den nächsten Punkt zu betonen. »Wegen bewaffnetem Raub, dachte ich.«
»Bewaffneter Raub«, wiederholte Clevenger.
Wieder reckte sich der Finger hoch. »Jedenfalls, ich heirate sie. Das kleine Mädchen ist da elf. Aus heiterem Himmel heraus beschuldigt mich die Mutter, ich würde ihr zu nah treten.«
»Sie meinen, anfassen.«
Er ignorierte die Korrektur. »Ich hab nichts getan. Das schwöre ich bei den Seelen meiner Eltern. Ich hab die Badezimmertür einen Spalt weit aufgemacht und meinen Kopf abgewandt, aus Respekt vor ihrer Privatsphäre. Ihre Mutter ist am anderen Ende des Flurs. Sie sieht es und fängt an zu schreien.
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