Ausgeloescht
einmal zu ihr um.
»Eine letzte Frage.«
»Nur zu«, antwortet sie, nach wie vor zugänglich.
»Haben Sie Ihren Vater geliebt?«
Ich kenne die Antwort, aber ich möchte sie hören.
»Dank der Lektionen, die mein Vater mir erteilt hat, lebe ich noch. Abends gehe ich schlafen. Morgens stehe ich auf. Ich esse drei Mahlzeiten am Tag. Ich pisse, ich scheiße, ich atme. Ich werde das morgen tun und übermorgen bis zu dem Tag, an dem ich es nicht mehr tue.« Sie lächelt. »Ich überlebe. Das ist alles, was zählt. Um Ihre Frage direkt zu beantworten: Ich habe ihn nicht geliebt, weil es so etwas wie Liebe nicht gibt. Aber ich bin ihm dankbar.«
Ich gehe zur Tür hinaus und lasse sie in ihrer Perversion des Friedens zurück.
Kapitel 42
Heather Hollister sitzt mir in Krankenhauskleidung gegenüber. Ihr Haar wächst und bildet einen feinen Flaum auf ihrem Kopf. Ihre Blicke huschen nicht mehr hin und her, doch ihre Augen sind hohl und tief, erfüllt von zu vielen Gedanken.
Während ich entführt war, hatte ihr Zustand sich weiter verschlechtert, ehe es endlich besser wurde. Wochenlang musste sie ruhiggestellt werden, wenn sie delirierte, weinte und schrie. Ihr Arzt hat nachdrücklich davon abgeraten, ihr von Averys Tod zu erzählen, und gesagt, dass es sie über eine Grenze treiben könnte, hinter der es für sie kein Zurück mehr gab. Sie vor der Tatsache von Averys Tod zu beschirmen, erforderte allerdings gleichzeitig, ihr keine Hoffnungen zu machen, dass Dylan noch lebt.
Doch mittlerweile ist Heather stabiler. Und jetzt, nach vielen Diskussionen, hat der Arzt zugestimmt, dass es an der Zeit sei, ihr die Wahrheit zu sagen.
Daryl Burns wartet im Gang. Er ist der Aufgabe nicht gewachsen. In mancher Hinsicht möchte ich ihn verfluchen ob seiner Schwäche, doch ich weiß schon seit Langem, dass auf manchen Gebieten, wichtigen Gebieten, Frauen größere Stärke besitzen als Männer. Wenn es um die Familie geht, besonders um unsere Kinder, sind wir in der Lage, fast alles zu tun und auszuhalten.
Ich habe einmal eine Frau kennengelernt, die beinahe das sechste Opfer eines Serienmörders geworden wäre, der es auf Hostessen abgesehen hatte. Er vereinbarte ein Treffen mit ihnen, und dann folterte er sie mit glühenden Zigarettenspitzen, ehe er sie mit einem Schlachtermesser ermordete. Sie war eine Asiatin, und ihr Mann hatte sich umgebracht, nachdem er ihr gesamtes Geld verspielt hatte. Sie und ihr sechs Monate alter Sohn blieben mit nichts zurück, und sie waren schon vorher arm gewesen. Sie stellte fest, dass sie ihren Lebensunterhalt unmöglich verdienen konnte, und stand einen Monat vor der Zwangsräumung, als sie beschloss, ihren Körper zu verkaufen.
Ich erinnere mich mit solcher Deutlichkeit an sie, weil sie eine sehr stolze Frau war - nicht arrogant, aber würdevoll. Sie wusste, wer sie war, worauf sie hoffte und was richtig und was falsch war. Ihren Körper zu verkaufen war etwas, das sie zutiefst entwertete; deshalb brach ich meine eigenen Regeln und fragte sie, wieso sie es tat.
»Ich würde eher in einem Pappkarton auf der Straße leben und Hundefutter essen, als mich zu prostituieren, wenn es nur um mich ginge«, sagte sie. »Aber ich habe meinen Sohn, verstehen Sie? Er wird in einem schönen Haus aufwachsen und gut gekleidet sein und die Schule besuchen, und seinen Kindern wird es besser gehen.« Sie lächelte mich an, eine herzzerreißende Mischung aus Gelassenheit und Trauer. »Gott wird mir dies alles vergeben, wenn nur mein Sohn ein besseres Leben führt. Das reicht mir.«
Ihr Ehemann ist seiner Armut und seiner Beschämung ausgewichen, indem er von einem hohen Gebäude sprang. Die Frau blieb und litt, und ihr Sohn war gesund und musste nie hungern.
»Sie hat Ihnen auch den Kopf rasiert?«, fragt Heather, und ich schrecke auf.
Ich habe ihr gesagt, dass Mercy Lane Dali war.
»Ja.«
Sie seufzt und sieht weg. Langsam nähert ihr Blick sich wieder meinen Augen. »Haben Sie ...« Sie zögert. Sie fürchtet die Frage; dennoch ist sie gebannt. »Haben Sie die Dunkelheit gesehen?«
Mir schaudert. Mein Mund wird trocken. »O ja.«
Sie schließt die Augen und öffnet sie wieder, eine Geste geteilter Qual, und in diesem Moment begreife ich, welche Kraft Selbsthilfegruppen zusammenhält. Heather Hollister begreift, was ich durchgemacht habe. Sie
weiß
es. Niemand sonst kann es verstehen, nicht im vollen Ausmaß. Tief in unserem Innern sind wir alle allein, aber manchmal teilen andere dieses Alleinsein
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