Ausgeloescht
weil Perfektion unmöglich ist, aber den Zeitfaktor habe ich mit Sicherheit ausgeschaltet.«
Sie lächelt; dann reckt sie sich, lässt sich zurücksinken und mustert mich entspannt und geduldig. »Die Sache ist die«, sagt sie schließlich, »ich habe zwar Ihre Frage beantwortet, aber ich glaube nicht, dass Sie die Antwort jemals
verstehen
werden. Nicht richtig jedenfalls.«
Sie gibt meine eigenen Zweifel wieder. Ich möchte begreifen, ich will es wirklich. Mein Leben habe ich damit verbracht, diese Kreaturen zu jagen. Am Ende bin ich, ganz gleich, wie abartig sie sind und wie verdreht sie denken, immer zu einem tiefen Verständnis dessen gelangt, was sie im Innersten ausmacht. Das ist es, was mir die geistige Gesundheit erhält. Wenn man die Sonne auf sie scheinen lässt, verlieren sie die Macht, die sie über einen haben. Wenn es einem nicht gelingt, sie aus den Schatten zu zerren ...
»Lassen Sie es darauf ankommen«, sage ich.
Sie beugt sich vor. »Alles, was wir sind, ist unser nächster Atemzug, und Freude ist, was nach dem Überleben kommt. Solange ich genügend Geld besaß, um mir ein Dach über dem Kopf und die nächste Mahlzeit zu sichern, war Zeit nicht wichtig. Mir ging es nicht darum, Reichtum rasch anzuhäufen. Es ging darum zu wissen, dass ich ihn eines Tages hätte, und in der Zwischenzeit nicht gefasst zu werden.«
Der letzte Teil erregt meine Aufmerksamkeit, und ich stürze mich darauf. »Wo fügt sich denn die Freiheit in Ihre Philosophie, Mercy? Wenn es nur um Essen und ein Dach über dem Kopf geht, was stört Sie dann am Gefängnis? Sie können auch dort atmen und schlafen. Sie bekommen drei Mahlzeiten am Tag und ein Bett.«
Bedauern blitzt in ihren Augen auf. »Ich habe es gewusst«, sagt sie und schüttelt den Kopf über meine offensichtliche Begriffsstutzigkeit. »Sie werden es niemals verstehen.« Mit einer Hand reibt sie sich die Augen, wie ein Lehrer, der seine Geduld mit einem schwierigen Schüler nicht verlieren will. »Wir versuchen es ein letztes Mal. Sind Sie bereit?«
»Ja.«
Sie redet langsam, spricht jedes einzelne Wort überdeutlich aus, als spräche sie mit jemandem, der nicht besonders helle ist. »Das Einzige, was am Gefängnis nicht stimmt, ist ausgerechnet das, was man am wenigsten akzeptieren kann: Es ist eine Umgebung, die man nicht kontrollieren kann. Ein Mangel an Kontrolle bringt immer die Möglichkeit des Todes mit sich. Es geht nicht um die Freiheit, es geht um die
Variablen
und wie sie die Fähigkeit beeinflussen können, seinen nächsten Atemzug zu nehmen.«
Ich starre sie an, und plötzlich verstehe ich sie. Die Sonne geht auf, die Schatten verschwinden, und da ist sie: fremdartig, aber nicht mehr furchteinflößend. Ich verstehe, wieso sie sich in ihrer eigenen Brillanz verfangen hat. Ich begreife ihr Bedürfnis, endlos jede einzelne Variable zu kalkulieren, und warum sie das an Besessenheit grenzende Bedürfnis hat, jeden Faktor zu kontrollieren, den sie kontrollieren kann. Mercy ist eine neue Art von Monstrum, das ist alles. Diesmal habe ich nur ein wenig länger gebraucht, um es zu begreifen.
»Sie sind eine Maschine«, murmele ich, ein wenig erstaunt, ein wenig angewidert. »Eine Maschine mit der Funktion, die Faktoren, die zum NichtÜberleben führen könnten, so nahe wie möglich an null anzunähern.«
Sie blinzelt überrascht. Dann lächelt sie, und es ist das erste offene Lächeln, das ich bei ihr gesehen habe. Es ist beinahe schön. Vielleicht erscheint es auch nur so, weil es die Wahrheit andeutet: Vor langer Zeit war dieses Ungeheuer vor mir einmal ein Mensch.
»Jawohl!«, sagt sie. »Genau so ist es.«
Die nächsten Stunden verbringe ich damit, sie über ihre Kindheit und ihr Leben auszufragen, doch was ich erfahre, bestätigt nur, was ich schon weiß. Sie ist eine leere Schachtel voller Luft, eine bewegungsfähige Schaufensterpuppe, außen drei Dimensionen, innen zwei. Aus ihr ist geworden, was sie predigt und zu was sie gemacht wurde: nur Fleisch, unfähig zu Liebe oder Hass, eine Maschine auf Beinen, die die Rechenaufgabe ihres reinen Überlebens ständig neu löst, solange sie atmet.
Sie hat ihre Macht über mich verloren. Ich werde sie bei den anderen ablegen, in diesem Tresor in meinem Kopf. Die Mappe mit ihrer Akte wird zuerst neuer und frischer sein, aber das gibt sich mit der Zeit.
Ich bin fertig und räume meine Unterlagen in meine Aktentasche. Ich wende mich zum Gehen, doch ehe ich die Tür erreiche, drehe ich mich noch
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