Ausgeloescht
mit uns.
Ich nehme einen tiefen Atemzug und versuche, klaren Kopf zu bekommen. Es wird ein schrecklicher Augenblick sein, aber auch ein Augenblick der Hoffnung. Wird die Mischung von beiden das eine stärker machen, oder schwächen sie sich gegenseitig?
»Heather, ich muss Ihnen ein paar Dinge sagen. Manche sind sehr schlimm. Andere sehr, sehr gut.«
Sie sieht mich mit ihren tief liegenden Augen an. »Macht es einen Unterschied, was Sie mir zuerst sagen?«
»Nein. Das Schreckliche wird schrecklich sein. Punkt.«
Sie sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Es geht um meine Söhne, nicht wahr?«
Ich mache große Augen. »Ja«, bringe ich hervor.
Sie nickt. »Das dachte ich mir. Einer von ihnen ist tot, und einer von ihnen lebt.« Sie sieht mich durchdringend an. »So ist es doch, oder?«
Ich schlucke, fasziniert und verängstigt.
Woher weiß sie das? »Ja.«
Sie wendet den Blick von mir ab und starrt teilnahmslos auf das Fenster.
»Ich glaube, ich könnte den Rest meines Lebens vor einem offenen Fenster sitzen, wo ich nach draußen schauen kann und die Sonne sehe. Als ich in diesem
Raum
war, konnte ich die Sonne nur in mir selbst sehen. Ich habe immer die Augen geschlossen und das Licht herbeigerufen.« Sie lächelt schief. »Mein Dad hat es immer so genannt: das Licht herbeirufen. Als ich fünf war, hatte ich eine Heidenangst vor meinem Schrank. Ich war mir sicher, dass ein Ungeheuer darin wohnt. Und wer weiß? Vielleicht war es ja wirklich so. Dad hat sich über die Vorstellung niemals lustig gemacht. Er nahm mich sehr ernst. >Schatz<, sagte er zu mir, >wenn das Monster kommt, dann brauchst du nur das Licht herbeizurufen. Es gibt kein Ungeheuer, das dem Licht standhalten könnte. «< Sie sieht mich wieder an. »Eine nette Vorstellung, nicht wahr?«
»Und wahr ist sie auch.«
Sie runzelt leicht die Stirn, hebt die Schultern ein wenig. »Vielleicht. Auf jeden Fall, als ich in diesem Höllenloch war, erinnerte ich mich an das, was er gesagt hatte.
Dann habe ich die Augen geschlossen und das Licht herbeigerufen. Ich war mit meinen Söhnen am Strand. Mit Avery und Dylan. Sie wurden nie älter, waren immer lieb, und wir hörten nie auf zu lachen.« Sie schweigt kurz. »Natürlich gab es auch wolkige Tage. Manchmal verdunkelte sich die Sonne, oder es regnete. Manchmal fand ich mich nachts an dem Strand wieder, vor einem sturmgepeitschten Meer mit haushohen Wellen. Ich stand im Sand und starrte zu dem dunklen Wasser hinauf, und immer öffnete ich die Augen, ehe es über mich hereinbrach.« Sie seufzt. »Manchmal waren Ungeheuer am Strand. Vampire kamen aus dem Wasser gekrochen, verfaulend und hungrig und mit Seetang behangen. Sie hatten immer Douglas' Gesicht. Aber an den sonnigen Tagen war das Wasser kristallklar, so weit das Auge reicht... weißer Sand, blauer Himmel, helle Sonne und meine Jungen.« Sie starrt auf ihre Hände und blinzelt Tränen fort. »Sie hielten mich am Leben. Nicht körperlich, das meine ich nicht. Sie hielten den grundlegendsten Teil von mir am Leben. Ein Saatkorn von mir selbst, so sehe ich es. Ganz gleich, wie schlimm es wurde, ich habe mir immer gesagt, dass ich dieses Saatkorn verstecken könnte, und wenn ich je herauskäme, wenn ich irgendwie überlebte, könnte ich daraus mein altes Ich wieder wachsen lassen.« Sie ballt die Fäuste, dreht sie hin und her, öffnet sie und blickt auf ihre Handflächen. »Das haben meine Söhne für mich getan.«
Sie schweigt und sieht auf die Sonne, die durch das Fenster scheint. Ich warte, lasse sie grübeln, spüre das Anderssein, das sie empfindet. Der Moment verstreicht, und sie wendet sich wieder mir zu.
»Welcher Junge ist tot?«
»Avery.«
Sie kneift die Augen fest zu. Trauer huscht über ihr Gesicht und ist dann wieder verschwunden.
»Avery ... der ältere. Ich hatte einen Kaiserschnitt, und sie zogen ihn als Ersten heraus. Er schrie wie am Spieß. Dylan war immer der Stillere. Nicht nachdenklicher, nur weniger aggressiv. Avery liebte Musik. Er tanzte zu meinen CDs. Er hüpfte schon auf dem Teppich auf und ab, als er noch Windeln trug.« Ihr Körper zittert.
Die Augen hat sie noch immer geschlossen. »Avery Edward Hollister. An einem Tag, gar nicht lange vor meiner Entführung, hatte ich beide Jungen bei mir. Wir waren gerade vom Einkaufen nach Hause gekommen, und ich war ganz kurz abgelenkt. Avery entwischte mir, und kaum dass ich mich versah, hörte ich die Nachbarin um Hilfe rufen. Ich ließ die Einkäufe fallen, schnappte
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