Ausgeloescht
heran, gehegt und gepflegt von einem finsteren Gärtner mit einer Hacke aus Knochen.
Kapitel 2 - Heute
Jeder ist eine Insel, das habe ich früh lernen müssen.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich liebe Tommy, und wenn ich nachts aufwache, und er liegt neben mir, sodass ich ihn anfassen, wecken, mit ihm reden und vielleicht mit ihm schlafen kann, gibt es nichts Schöneres für mich. Dieses Gefühl und die intime Kenntnis seines Körpers teile ich mit nur wenigen Frauen (ja, es gibt ein paar, aber nicht viele). Ich genieße meine eigene Begierde ebenso wie Tommys Verlangen nach mir, das mich mit einer Art egoistischem Stolz erfüllt. In solchen Augenblicken bin ich die Besitzerin geheimen Wissens und Hüterin verborgener Dinge.
Doch das ändert nichts an der Wahrheit: Trotz aller Intimität weiß Tommy nicht, was ich in meinem Innern empfinde - genauso wenig, wie ich es von ihm weiß. Bei aller Leidenschaft bleibt die Seele in der Dunkelheit verborgen.
Inzwischen komme ich damit zurecht, auch wenn es eine Zeit gab, in der ich mich gegen diesen Gedanken gewehrt habe, wie wahrscheinlich jeder von uns. Wir wollen alles über den anderen wissen, die kleinste Kleinigkeit. Wir wollen in ihm lesen wie in einem offenen Buch und selbst gelesen werden. Wir wollen eins mit ihm werden. Aber das geht nicht, jedenfalls nicht bei mir. Jeder ist eine Insel. Wie nahe wir uns auch kommen, eine gewisse Entfernung bleibt. Liebe, so habe ich begriffen, heißt nicht nur, sich mitzuteilen, sondern auch mit dem klarzukommen, was eben nicht mitgeteilt wird.
Ich drehe mich auf die Seite, die Wange an der Hand, und betrachte Tommy. Sein Gesicht mit der Narbe an der linken Schläfe ist nicht hübsch, aber sehr attraktiv, auf eine raue und männliche Art. Er ist groß, eins fünfundachtzig, und hat das dunkle Haar und die dunklen Augen eines Latinos. Er hat einen offenen und zugleich vorsichtigen Blick - einen Blick, wie man ihn nur dann bekommt, wenn man ein ehrlicher Mensch ist und zwei Leute getötet hat.
Tommy schläft tief und fest, den Mund geschlossen. Ich traue mich nicht, ihn zu lange anzustarren. Er könnte meinen Blick spüren und wach werden, denn er weiß wie ich, dass der Tod immer und überall lauert, und ist deshalb wachsam, selbst im Schlaf. Menschen wie Tommy und ich eignen sich einen leichten Schlaf an. Menschen, die Dinge tun, wie wir sie getan haben. Die sehen, was wir gesehen haben.
Ich drehe mich auf den Rücken und blicke durch die offene Balkontür in den Nachthimmel. Wir haben die Tür offen gelassen, damit wir das Meer hören können. Hier auf Hawaii ist es warm genug, um bei offener Tür zu schlafen. Wir machen hier fünf Tage Urlaub. Für mich ist es der erste Urlaub seit mehr als zehn Jahren.
Hawaii, Insel aus Feuer und Eis. Als Tommy und ich vom Flughafen Hilo zum Hotel fuhren, haben wir uns gefragt, ob wir bei der Wahl der Insel einen Fehler gemacht haben. So weit das Auge reichte, waren nur schwarzes Vulkangestein, dürre Bäume und spärliches Gras zu sehen, als wären wir auf einem unwirtlichen Mond gelandet. Doch als wir uns der Ferienanlage näherten, legten sich unsere Befürchtungen. In der Ferne konnten wir den schneebedeckten Mauna Kea sehen, über 4000 Meter hoch. Es war merkwürdig, auf Hawaii aus dem offenen Wagenfenster zu schauen und Schnee zu sehen, aber da war er und leuchtete weiß in der Sonne. Wunderschön, genau wie der Rezeptionsbereich der Ferienanlage. Wir hatten einen herrlichen Blick aufs Meer und den makellosen Strand, und ein warmer Wind küsste unsere Wangen, wie um uns willkommen zu heißen. »Aloha«, sagte der junge Mann an der Rezeption, und seine weißen Zähne leuchteten in seinem tiefbraunen Gesicht.
Wir sind jetzt seit vier Tagen hier, und unsere Hauptbeschäftigung ist das Faulenzen. Hawaii hat uns freundlich aufgenommen, hat das Blut an unseren Händen ignoriert, hat uns durch seine Schönheit überredet, abzuschalten und auszuruhen. Unser Zimmer ist im dritten Stock, und der Balkon ist nur fünfzig Meter vom Meer entfernt. Wir liegen den ganzen Tag in der Sonne, und abends gehen wir am Strand spazieren, beobachten die fantastischen Sonnenuntergänge und bewundern die Sternenpracht am außergewöhnlich klaren Himmel, der noch nicht von Smog getrübt ist.
Doch für uns ist es ein Paradies auf Zeit. Bald fliegen wir nach Los Angeles zurück, wo ich im dortigen FBI-Büro als NCVAC-Koordinatorin arbeite. Das NCVAC ist das US-Bundesamt zur Analyse von Gewaltverbrechen
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