Ausgeloescht
Sie kratzt sich ein bisschen zu stark am Kopf und hinterlässt einen roten Striemen.
»Wie wäre es mit dem Abend, an dem Sie entführt wurden? Woran können Sie sich erinnern?«
Sie kneift die Augen zusammen. »Das ist so lange her, eine Ewigkeit. Ich habe versucht, die Tage zu zählen ... ja, wirklich. Aber das war schwer, weil es kein Licht gab.« Sie wiederholt, was er ihr verweigert hat. »Gar kein Licht.«
»Auf dem Parkplatz, wo er Ihnen aufgelauert hat, waren die Laternen ausgefallen, nicht wahr?«, versuche ich ihr einen Weg aus dem gedanklichen Chaos zu weisen.
Sie runzelt die Stirn. »Wirklich? Ja ... ja, ich glaube. Oh, er ist gerissen. Sehr gerissen. Und kalt.« Sie schaudert, zupft an der Haut am linken Arm, bis es blutet. »Zu kalt.«
»Sie kamen gerade vom Fitnesstraining«, sage ich so beiläufig ich kann. Ich möchte sie in den Augenblick der Entführung zurückversetzen und die Gegenwart so unbedrohlich wie möglich gestalten. »Die Polizei hat Ihre Schlüssel auf dem Boden neben Ihrem Wagen gefunden. Was ist passiert?«
Sie keckert wieder. »Da war endlich einmal
ich
gerissen. Die meiste Zeit war er der Gerissene, aber in dem Moment war ich es. Ich habe die Schlüssel fallen lassen, damit alle wissen, dass ich entführt worden war und nicht abgehauen bin.« Sie sagt es mit beinahe kindlichem Stolz.
»Das war wirklich gerissen, Heather«, pflichte ich ihr bei. »Da waren Sie cleverer als er, und es hat geklappt. Alle wussten, dass Sie entführt worden sind.«
Sie nickt wiederholt. »Ja, ich war clever. Er hat mich mitgenommen, aber ich war clever. Er hat mich mitgenommen ...« Der Satz verebbt, und das Zucken am Auge setzt wieder ein.
»Wie hat er das angestellt, Heather? Wissen Sie das noch? Können Sie es mir erzählen?«
Sie dreht den Kopf, schaut mich an, Augen und Mund weit geöffnet, sodass sie wie ein verängstigtes kleines Mädchen aussieht. »Es war das Flüstern«, sagt sie und flüstert nun selbst. »Was er geflüstert hat. Er hat mir eine Pistole an den Rücken gedrückt und mir ins Ohr geflüstert.«
»Was hat er gesagt?«
»Dass ich mitkommen muss. Sofort. Oder er bringt erst mich und dann Douglas und die Kinder um. Er hat mir Dinge über sie erzählt... wo Douglas arbeitet und zu welchem Arzt die Kinder gehen. Ich habe ihm geglaubt.«
»Haben Sie sich gewehrt?«
Sie dreht den Kopf zur Seite und seufzt. »Es hätte nichts genützt. Das war mein Plan, wissen Sie?« Sie nickt eifrig. »Ja, das war mein Plan. Ein guter Plan. Ich wollte so tun als ob und auf eine Chance lauern.« Sie kaut auf der Unterlippe. Bei jedem anderen würde es nachdenklich aussehen - und vielleicht denkt sie tatsächlich nach -, aber sie hört nicht auf zu kauen, bis es blutet. Eine feine roten Linie zieht sich über ihr Kinn.
»Heather.« Ich strecke die Hand aus.
Sie sieht mich nicht an, doch meine Bewegung reißt sie aus ihren Gedanken. »Was?«, fragt sie.
»Wir sprechen über Gegenwehr.«
Sie schüttelt den Kopf. »Es ging nicht.«
»Was ging nicht?«
»Wehren. Er hat mich in den Kofferraum gesteckt, mich aber nicht gefesselt oder so. Als er anhielt, war ich bereit. Der Kofferraumdeckel ging auf, und ich wollte ihm kung-fu-mäßig eins verpassen, aber ...« Sie schüttelt den Kopf. Seufzt. »Er hatte damit gerechnet. Sprühte mir Pfefferspray ins Gesicht und betäubte mich mit einem Elektroschocker.« Das kleine Mädchen zeigt sich wieder in ihrem Gesicht, und der kahle Kopf trägt dazu bei, dass sie so verletzlich wirkt. »Wissen Sie, was dabei am schrecklichsten ist? Dass er kein Wort gesagt hat. Er war totenstill. Er sprühte mich an, betäubte mich, schleppte mich dorthin und ...« Sie schluckt hörbar und flüstert: »Und warf mich ins Dunkel.«
Ich will ihr eine Frage stellen, doch sie ist in diesem grauenhaften Augenblick versunken, in der Zelle, in der sie acht Jahre verbracht hat. Sie ist nicht hier, sondern dort. Ich schweige und warte, dass sie von selbst fortfährt.
»Haben Sie jemals vollkommene Dunkelheit erlebt?«, flüstert sie schließlich. »Ich hatte sie vorher nie gesehen. Douglas und ich sind mal auf einer Reise in den Carlsbad Caverns gewesen, den berühmten Höhlen in New Mexico. Man wird tief unter die Erde geführt. An einer Stelle des Rundgangs spricht der Fremdenführer über völlige Dunkelheit ... und dann schaltet er das Licht aus. Es ist unglaublich.« Sie staunt bei der Erinnerung. »Sie sehen
nichts.
Es gibt nichts, woran Ihre Augen sich gewöhnen
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