Ausgerockt - [Roman]
Bei wem denn auch?« Holger stand auf und ging zu seinem Schlagzeug. Lustlos schraubte er daran herum und baute ein kleines Crash-Becken ab.
Vielleicht hoffte er, Linus würde ihn daran hindern, noch mal über alles reden wollen, aber nichts lag Linus ferner. Stattdessen griff er nach seinem Gitarrenkoffer und räumte die Texte, Kabel und Stecker raus, um Platz für die Gitarre zu schaffen.
»Noch Lust auf ’ne kleine Session?«, fragte Holger. »Nur du und ich? Wie früher?«
Er grinste schief. Es war sein ganz eigener, unverkennbarer Gesichtsausdruck, eine sympathische Grimasse, die sich unabhängig von seinem Alter nie verändert hatte. Holger war zweiunddreißig, aber dieses Grinsen war immer noch das eines Neunzehnjährigen.
Genau genommen war es das Grinsen jenes Neunzehnjährigen, der vor einem Jahr von der Schule abgegangen war und eine Lehre zum Kfz-Mechaniker begonnen hatte.
Kaum jemand hatte sich damals noch sonderlich für Holger interessiert, obwohl er zwei Jahre zuvor einer der buntesten Vögel in der Geschichte der Schule gewesen war. Und Holger war vor allem eins gewesen, was nicht jedem bunten Vogel zwangsläufig zueigen war: ein arger Problemfall.
Er hatte, abgesehen von schlimmeren körperlichen Auseinandersetzungen, so ziemlich alles auf dem Kerbholz, was man sich in fünf Jahren Realschule erlauben konnte, ohne zwangsläufig rausgeschmissen zu werden. Es waren nicht solche Arten von Vergehen, die andere einschüchterten. Eher ging es um Dinge, die niemandem persönlich wehtaten, aber die allgemeine Ordnung erheblich störten.
Feueralarm, eine Nackttour durch die Schulkorridore, Alkohol auf dem Gelände, Rauchen im Klassenzimmer.
Linus wusste nicht, was Holger bei den regelmäßigen Rapports gesagt oder versprochen hatte, aber er hatte die Lehrer immer wieder davon überzeugt, dass er sich bessern würde. Und sie hatten ihm immer wieder eine Chance gegeben.
Holger war ein Jahr zu spät eingeschult worden, weil seine Eltern vergessen hatten, ihn anzumelden. Ansonsten hatte er immer durchschnittliche, in einigen Fächern sogar gute Noten gehabt.
Am Tag seiner Entlassung trug er über Schlips und Kragen ein breites Grinsen, nahm ein durchaus passables Abschlusszeugnis in Empfang und trank danach eine halbe Flasche Wodka, direkt unter den Augen der Eltern und Lehrerschaft. Man schickte ihn nach Hause. Der Lehrer, der ihm am Vormittag noch augenzwinkernd Respekt gezollt und seine Eskapaden heruntergespielt hatte, hatte sich so sehr über ihn aufgeregt, dass er – wie man hörte – zur Beruhigung selbst von dem beschlagnahmten Wodka getrunken hatte und am Nachmittag am Tresen einer stadtbekannten Kneipe gesehen wurde, in die er sonst nie ging. Der Mann schien Holger gemocht zu haben.
Für Linus hatte sich nie die Frage gestellt, ob er diese Geschichten glaubte oder nicht, denn er hatte das meiste mit eigenen Augen gesehen.
Er selbst war im Vergleich zu Holger unauffällig gewesen. Immer und überall gab es Typen, die die Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Anführertypen, Alphatiere. Und diese Typen hatten Freunde, die glaubten, es mache sie bereits cool, mit dem Coolsten befreundet zu sein.
Linus war weder ein Alphatier gewesen, noch einer von denen, die sich am Rockzipfel eines solchen tummelten. Stattdessen hatte der unauffällige Einzelgänger Linus sich dem Prototypen des sich selbst zelebrierenden Einzelgängers angenähert.
Holger, stadtbekannt, aber nicht sonderlich beliebt. Ein Aufmöbeln des eigenen Ansehens hatte Linus von dieser Annäherung somit ohnehin nicht erwarten können.
Aber Holger war Schlagzeuger, der einzige Schlagzeuger, den Linus kannte.
»Hallo? Jemand zu Hause?« Holgers Grinsen war intensiver geworden, so als wüsste er, woran Linus gerade gedacht hatte. »Also, kleines Duett gefällig? Schlagzeug und Gitarre wird seit den White Stripes durchaus wieder als Band anerkannt.«
Linus schüttelte den Kopf. »Nein, wirklich. Habe keine Lust.« Und um keinen Zweifel an seinen Worten zu lassen, ließ er die Gitarre auffallend schnell im Gitarrenkoffer verschwinden.
»Ist ja gut. Dann lass uns wenigstens die Kiste leermachen. Das Zeug sollte hier nicht verkümmern.«
Zu Linus’ Erstaunen schmeckte ihm das Bier nach ein paar Schlucken bereits wieder. Außerdem hatte er keine Lust, nach Hause zu fahren, weil ihn dort ohnehin nichts erwartete.
»Also dann. Warum nicht.« Linus prostete Holger zu.
Holger lächelte. »Cool.«
Nach einer Pause bemerkte er ganz
Weitere Kostenlose Bücher