Ausgerockt - [Roman]
Ärzte-Schild«, sagte er.
Schließlich konnte Linus es sehen.
An einem offenen Bürofenster im zweiten Stock stand ein blonder Mann in braunem Sakko, unter dem ein knallgelbes T-Shirt aufblitzte. Neben ihm zappelte eine brünette junge Frau herum, die mit einem Handy telefonierte und immer mal wieder vom Fenster verschwand, um kurz darauf überstürzt zurückzukommen.
»Der Typ besitzt doch tatsächlich die Dreistigkeit, sich ans offene Fenster zu stellen.«
»Wer ist das?«, fragte Linus.
»Das ist der MTV-Typ. Angeblich hier, um einen Überblick über das Musikgeschehen im Land Bremen zu erlangen. Die verbuchen das wahrscheinlich unter dem irreführenden Begriff Nachwuchsförderung.«
»Und?«
»Das ist hohles Geschwätz. Ausgerechnet die wollen den Nachwuchs fördern? Von wegen. Die wollen es sich bloß auf die Fahnen schreiben. Die sind hier, um ihre Scheiße besser verkaufen zu können. Während die Regierung immer zentralistischer wird, breitet sich die kommerzielle Seuche nach förderalistischem Vorbild aus und unterwandert ganze Städte und Dörfer. Es ist wie mit Subway, H&M und Starbucks. Jetzt kriegt jede Großstadt ihr eigenes MTV-Büro, damit man unmittelbare Kontrolle über die Geschmäcker ausüben kann.«
Linus nickte zögerlich. »Möglicherweise hat er seine Fenster auch geöffnet, weil er verhindern will, dass du seine Scheiben kaputt machst.«
»Quatsch!« Holger spuckte dieses Wort mit Verachtung aus. »Der glaubt doch nicht mal daran, dass ich es zu ihm rüber schaffe.«
Linus sah wieder hinüber zum Büro.
Das war seine zweite Chance. Der erste Wink hatte Holger bereits verfehlt. Linus beschloss, deutlicher zu werden.
Er räusperte sich und fragte: »Glaubst du denn daran, dass du rüberkommst?«
Holger kniff die Augen zusammen und legte seinen Kopf schief, bevor er Linus schließlich ansah. Er schien eine ganze Weile lang nachzudenken. Schließlich sagte er: »Ach so.«
»Was?«, fragte Linus scheinheilig, obwohl er bereits wusste, dass Holger ihn durchschaut hatte.
»Jetzt weiß ich, warum du hier bist.« Holger entfernte sich zwei Schritte von ihm und sah ihn dabei an, als wäre Linus ein Überbringer der Pest. »Du glaubst nicht, dass ich da rüberkomme.«
Linus schwieg zunächst, aber er konnte nicht mehr zurück. Also nickte er, lächelte dabei und hoffte, dass jetzt nicht genau das Unglück passieren würde, das er zu verhindern versuchte.
»Du willst mich hier schön vom Dach holen, damit der Asi-Typ ungeschoren davon kommt. Dieser Wichser mit seinem verstandsverachtenden Fernsehsender. Überleg dir gut, auf wessen Seite du stehst, Keller. Wir waren ein Team. Weißt du noch, als wir beim Casting waren?«
Linus nickte.
Holger legte sein Fernglas in die Tasche und zog langsam den Reissverschluss zu. »Die haben wir ganz schön nass gemacht, was?«
»Nass im wahrsten Sinne des Wortes«, sagte Linus. »Aber du hättest einen besseren Kameramann verdient gehabt.«
Plötzlich hörte Linus hinter sich ein Klappern.
Die Dachluke wurde aufgedrückt. Sander steckte seinen Kopf hervor.
»Gehen Sie zurück!«, schrie Holger. Und obwohl seine Stimme ernst und durchdringend klang, grinste er Linus dabei an, als sei das alles hier ein Dummer-Jungen-Streich.
Linus sah, dass Sander sich etwas duckte. Er rief: »Hier ist jemand vom Radio. Der will mit Ihnen reden.« Und als Holger nichts antwortete, fügte Sanner hinzu: »Das sollte doch in Ihrem Interesse sein, oder?«
Linus’ Blick wanderte zwischen Holger und Sander hin und her, als verfolge er ein Tennisspiel.
Linus nickte Holger ermutigend zu. Vielleicht würde er zufrieden sein, wenn er sich über den Reporter mitteilen konnte. Vielleicht würde es ihm Genugtuung verschaffen. Dann konnte er auf seinen Flug verzichten.
Linus wollte daran glauben, obwohl er Holgers Wollen-Machen-Statistik kannte.
»Also gut!«, rief Holger. »Schickt ihn her.«
Linus machte ein paar Schritte in Richtung Dachluke. Er wollte Holger Gelegenheit geben, mit dem Reporter alleine zu sein. »Wo willst du denn hin?«, rief Holger.
»Ich setze mich da vorne auf den Sims, dann kannst du in Ruhe dein Interview geben.«
»Interview geben. Klingt gut, oder?« sagte Holger und dann imitierte er mit einer wirbelnden Handbewegung einen Adligen und rief: »Er möge kommen!«
Der Reporter war ein untersetzter Mann, gekleidet in Wildlederjacke, Jeans und Lederschuhen. Ganz vorsichtig kam er näher.
Um seinen Hals baumelte ein kleiner Rekorder und in
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