Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ausgesetzt

Ausgesetzt

Titel: Ausgesetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James W. Nichol
Vom Netzwerk:
spöttisch oder amüsiert reagierte. Oder alles auf einmal. Aber Walker schaute ihn nur starr an.
    »Warum sollte es neben mir stehen?«
    »Es sucht sich Seelen heraus«, sagte Jamie. Er lächelte Walker zu. »Man nennt das Aberglaube.«
    »Glauben Sie daran?«
    Einen Augenblick saß Jamie regungslos da. Er schnippte seine Zigarette in die sich ankündigende Dunkelheit. Sie prallte von der festgestampften Erde vor der Veranda ab und rollte ein Stück, bis sie liegenblieb.
    Walker interpretierte Jamies Schweigen als »Ja«. »Das heißt also, es sucht sich die Seelen heraus, die sterben müssen?«
    »Nein«, sagte Jamie und sah unbehaglich drein. »Nicht wirklich sterben. Es sucht Seelen für die Untoten heraus. Die Untoten brauchen lebende Seelen.«
    Walker fühlte sich, als balancierte er am Rand eines sehr tiefen Loches. »Ein gebrochenes Kind. Kann das ein Kind sein, das aus einem Inzest stammt, von Bruder und Schwester, etwas in der Art?« Seine Worte hingen scharf in der Luft, wie Glasscherben.
    »Gebrochenes Kind, das ist mir neu.« Jamie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht.«
    Walker gab nicht auf. »Lennies Baby, ist es hier auf dieser Insel zur Welt gekommen?«
    »In Joy’s Grove«, antwortete Jamie. »Bei Dr. Joshua Green. Alle hier mochten den alten Dr. Joshua Green, sogar Miss Emile. Trotzdem hat sie gesagt, sie hätte Lennies Baby genausogut hier auf die Welt bringen können. Sie hat Tausende geholt.«
    »War das Baby gesund?«
    Jamie lächelte. »Sie waren nicht gebrochen, wenn Sie das meinen. Wenn Sie es überhaupt waren.«
    »Genau. Wenn ich es überhaupt war.«
    Jamies Gesicht erhellte sich. »Vielleicht haben die drüben in der Klinik noch das Geburtenregister. Vielleicht steht da der Name Walker drin.«
    »Gute Idee. Ich werde das überprüfen, wenn wir zurückfahren«, sagte Walker. Die Dunkelheit war rasch gekommen. Er konnte kaum mehr die Umrisse der einzelnen Bäume ausmachen, die die Lichtung umstanden. »Als Sie mit Miss Emile gesprochen haben, war da die Rede davon, dass Lennies Mutter gestorben ist?«
    »Ungefähr eine Woche, bevor das Baby kam. Sie sollte eigentlich zurück ins Krankenhaus nach Kingston, aber eines Nachts, bevor sie sie hinbringen konnten, ist sie einfach gestorben. Miss Emile sagte, so wäre es am besten, weil sie so gern hier war. Sie wurde hier begraben.«
    »Wo?«
    »In St. Thomas. Da ist sie immer zum Beten hingegangen.« Jetzt stand Jamie auf. Er wollte gehen.
    Walker blieb noch einen Augenblick sitzen. Eine Frage hatte er noch. »Sie haben gesagt, das Ruhelose Kalb sucht sich die Menschen aus. Wie verliert ein Mensch seine Seele?«
    Jamie verließ die Veranda, als hätte er die Frage nicht gehört. Er schwang ein Bein über sein Motorrad und spielte mit den Gängen herum.
    Walker stand auf und folgte ihm.
    Jamie schien nicht gewillt, noch etwas zu sagen, aber Walker war sich nicht im klaren, ob aus Furcht vor der Geisterwelt oder weil er nicht wie ein altes Weib dastehen wollte. Er schaute Walker nicht an, doch als er sprach, klang es wie eine Warnung.
    »Das Ruhelose Kalb sucht dich aus, und jemand steigt aus seinem Grab. Der fesselt dich und schlitzt dich auf. Dann holt er deine Seele heraus«, sagte Jamie.
    Die Überzeugung, mit der er sprach, ließ keinen Raum für Zweifel.
     
    Krista saß vor Sam’s Inn in der Dunkelheit und wartete auf Walker, als Jamie vorfuhr und ihn absetzte.
    »Wie bist du denn heruntergekommen?«, fragte Walker.
    »Ich hatte keine Lust, den ganzen Abend auf dem Zimmer zu hocken. Tom Tait.«
    »Tom Tait?« Er setzte sich neben sie.
    »Der alte Mann, der uns die Koffer hochgetragen hat. Ich hab in der Rezeption angerufen, und er ist raufgekommen. Ich habe ihn gebeten, mir zu helfen.«
    »Hat er dich auf den Arm genommen und getragen?«
    »Mhm.«
    »Hast du dich sicher gefühlt?«
    »Mhm. Bist du eifersüchtig?« Sie nahm seine Hand, zog sie entschlossen auf ihren Schoß und hielt sie dort mit beiden Händen fest. Sie fühlten sich unglaublich warm an und weich. Wie ihr Schoß.
    »Was hat Miss Emile gesagt?«, fragte sie ihn schließlich.
    »Sie hat gesagt, sie kennt mich nicht.«
    »Aber damit hast du ja auch nicht gerechnet, nach so langer Zeit.«
    »Nein.«
    »Hat sie sich an den Namen des Babys erinnert?«
    »Nein. Sie ist über neunzig. Sie ist senil. Komm, gehen wir was trinken«, sagte Walker rasch. »Machen wir einen drauf. Tom Tait kann uns ja beide hinauftragen.«
    Die Bar füllte sich langsam mit Dorfbewohnern und

Weitere Kostenlose Bücher