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Ausgesetzt

Ausgesetzt

Titel: Ausgesetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James W. Nichol
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Mädchen. Es schien nicht besonders überrascht, dass dieser Fremde hier so aus dem Wald auftauchte.
    »Hi.« Walker sah an ihr vorbei in den dunklen Raum. Rot flackerte ein Feuer in einem alten gusseisernen Ofen. Büschel von etwas, das wie Gräser und Kräuter und Maiskolben aussah, hingen von den Deckenbalken.
    Jamie tauchte wieder auf. »Kommen Sie rein«, sagte er. »Miss Emile kann Besuch empfangen.«
    Walker ging an dem Mädchen vorbei in die dunkle Hütte.
    Obwohl das Feuer im Ofen prasselte, kam es Walker hier drinnen deutlich kühler vor als draußen. Die Luft war von dem scharfen Geruch der trocknenden Pflanzen erfüllt. Er duckte sich unter ihnen durch und folgte Jamie zu einer Art Alkoven.
    Im Inneren des Alkovens konnte Walker ein großes Eisenbett ausmachen, das den Großteil des Raums einnahm. Darauf lag eine voluminöse handgestickte Bettdecke in erstaunlich leuchtenden Farben – orangefarbene Monde und violette Himmel, weiße Sterne und gelbe Sonnen. Beim Näherkommen erkannte er als winzige Erhebung unter der Decke einen menschlichen Körper und darüber, auf zwei Kissen gebettet, ein altes Gesicht. Es ähnelte mehr einer alten Mumie als einem lebendigen menschlichen Wesen. Abgesehen von den Augen. Die Augen glänzten im Licht etlicher Kerzen auf einem Tisch neben dem Bett.
    »Miss Emile«, sagte Jamie, »das ist Lennies Baby.«
    Nichts regte sich in ihrem Gesicht, doch die Augen der Alten blickten fest in Walkers Augen. Ihm war kalt.
    »Du erinnerst dich doch an Lennie?« Jamie versuchte, ihrem Gedächtnis etwas zu entlocken. »Und an ihre Mutter, Sarah? Weißt du noch, wie Sarah gestorben ist, noch bevor das Baby zur Welt kam? Du hast dich um Lennies Baby gekümmert, bis sie wegfuhr.«
    Walker wünschte, eine ihrer Hände läge auf der Decke. Er wollte sie nehmen, festhalten. Er wollte sich neben das Bett knien und der alten Frau ins Gesicht sehen. Denn sie hatte ihn gebadet und gefüttert, gewiegt und geküsst und in den Schlaf gesungen.
    Das war Nana. Wieder und immer wieder hatte Walker nach Nana gerufen. Das hatte in einem der ersten Berichte gestanden, die er in seiner Akte gefunden hatte.
    Aber er konnte nichts in ihrem verschrumpelten Gesicht wiedererkennen. Und nach ihrem Blick zu urteilen, erkannte sie ihn auch nicht mehr.
    »Wie hat Lennies Baby geheißen?«, fragte Jamie sie leise. »Wie hast du das Baby genannt? Wie war sein Name?«
    Die Alte öffnete den Mund, doch anstelle eines Namens kam ein Laut aus der Tiefe ihres Körpers wie ein fernes Klagen. Sie wiederholte ihn, und dieses Mal hörte Walker klar und deutlich, was sie sagte. »Gebrochenes Kind.«
    Jamie warf Walker einen Blick zu und lächelte, aber er sah ein wenig ängstlich aus. Er wandte sich wieder an die alte Frau. »Was meinst du damit, Miss Emile?«
    »Spross des Kalbes«, sagte sie. Sie streckte einen Arm aus, knorrig und hart wie ein alter Stock, und zeigte mit dem Finger nicht auf Walker, sondern neben ihn. »Ruheloses Kalb«, sagte sie.
    »Nein, das stimmt nicht, Miss Emile«, sagte Jamie mit einem Anflug von Angst in der Stimme. »Zuerst hört man es. Zuerst hört man seine Ketten.«
    Sie beachtete ihn gar nicht und griff nach Walkers Hand. Walker beugte sich zu ihr.
    Jetzt war ihm mehr als kalt, er hatte ein Gefühl, als ob er langsam in eiskaltes Wasser eintauche. Er fing an zu zittern.
    Er kam sich lächerlich vor, weil sie sehen konnten, dass er zitterte. Er fühlte sich hilflos.
    Er reichte ihr die Hand, und sie schloss ihre Finger darum. Ihr Mund öffnete sich wie der Eingang zu einer Höhle.
    Zweimal, damit er es ja nicht überhöre, flüsterte sie: »Lauf.
Lauf


[home]
    26
    1976
    B obby schlich sich in das Schlafzimmer, das sein Vater jetzt benutzte. Es lag nicht im selben Flügel des Hauses wie das Zimmer, das seine Mutter bewohnte, weil sie im Sterben lag.
    Sein Vater brachte es kaum über sich, ihr in das abgezehrte Gesicht mit den brennenden Augen zu blicken, geschweige denn, in einem Bett mit ihr zu schlafen. Das Haar war ihr vollständig ausgefallen. Normalerweise trug sie eine Art weißen Turban, aber Bobby hatte sie einmal gesehen, wie sie vor der Frisierkommode in ihrem Zimmer gesessen war, und ihr Kopf war völlig kahl gewesen.
    Anfangs hatten sie in einem Hotel in der Nähe des Krankenhauses gewohnt und sie zweimal täglich besucht. Sein Vater hatte gewollt, dass sie nach Toronto zurückflöge, wo sie besser betreut werden konnte, doch sie hatte sich geweigert. Sie wollte auch nicht mehr

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