Ausgesetzt
Dauergästen, die, aus welchem Grund auch immer, auf Reef Island gestrandet waren.
Sam Weiss, noch immer in Khakishorts, zu denen er jetzt, mit mehr Stolz als Stilsicherheit, einen Elbsegler trug, setzte sich mit großem Getue ans Klavier. Er begann seine Darbietung mit »Lili Marleen«. Er klimperte und summte dazu. Einmal, und dann noch einmal, wieder und wieder. Offenbar war dies das einzige Stück, das er beherrschte.
Mit ihren Gläsern in der Hand kamen die Leute an Walkers und Kristas Tisch. Schließlich waren sie zu zehnt, alle freundlich, alle begierig, soviel wie möglich über die beiden zu erfahren.
Woher kamen sie? Wie lange blieben sie? Wie in aller Welt hatte es sie ausgerechnet nach Reef Island verschlagen? Was hatten sie hier vor?
Eine Italienerin unbestimmbaren Alters mit dunklem, gramerfülltem Gesicht, leuchtend rotem Lippenstift und überraschend volltönender, klingender Stimme fragte, ob sie auf Hochzeitsreise seien. Gespannt beugten sich alle ein wenig vor.
Wir sind doch bestimmt nicht das erste junge Liebespaar, das sie zu Gesicht bekommen, egal ob Hochzeitsreisende oder nicht, dachte Walker. Er hatte das Gefühl, dass der Hauptgrund für ihr Interesse eher bei Krista zu suchen war, ihrer furchtbar verdrehten Hüfte und ihren Aluminiumkrücken. Und dann konnte die kleine Gruppe an ihrem Tisch ja nicht einmal sicher sein, dass sie überhaupt ein Liebespaar waren. Vielleicht waren sie nur Freunde. Oder Geschwister, die einander herzlich zugetan waren. Es war eine kühne Frage, die die Italienerin da gestellt hatte. Walker war sicher, dass alle ihren Mut zu schätzen wussten.
»Ich hab bei Walkers Mutter um seine Hand angehalten, aber sie meinte, er sei noch zu jung«, erklärte Krista. »Im Moment üben wir noch.« Sie lächelte die Italienerin liebenswürdig an, als wolle sie damit zum Ausdruck bringen, dass diese auf eine direkte und arglose Frage eine ebensolche Antwort erhalten habe.
Alle lachten, auch Walker, obwohl ihn die Anspielung auf sein jugendliches Alter ein wenig irritierte. Er lehnte sich zurück, gab Tom Tait (der offensichtlich neben allem anderen auch bediente) mit den Augen ein Zeichen und bestellte eine Runde für alle.
»Walker ist wohlhabend und unabhängig«, sagte Krista.
Um Mitternacht trug er sie in ihr Zimmer hinauf. Er hatte nur vier Cola-Rum getrunken und stellte sich deshalb nicht allzu ungeschickt an. Er knallte ihr den Kopf nur einmal gegen die Wand – und auch das war mehr ein Streifen als ein Knallen.
Das war der Augenblick, über den sie nicht gesprochen hatten. Und diesmal bestand auch keine Chance, dass ihnen George Papadopoulos dazwischenfunkte.
Krista betrachtete sich im Badezimmerspiegel. Die drei Drinks hatten ihr auch nicht unbedingt gut getan. Sie rieb sich die Tränensäcke, sie sahen riesig aus. Sie verabscheute ihre Nase. Das Kinn war zu breit. Sie ließ das Wasser laufen, damit Walker glauben sollte, sie sei beschäftigt, doch sie stand nur da und starrte sich im Spiegel an.
Als sie herauskam, saß Walker, nur mit seinen Jeans bekleidet, im Schneidersitz auf dem Bett und drehte sich schon wieder eine Zigarette.
»Du machst alles mit deinem Tabak voll«, sagte sie und wünschte sofort, sie hätte es nicht getan. Es klang nicht sehr romantisch.
Er hielt inne und lächelte sie an. Er sah müde aus. Nein, dachte sie, erschöpft sieht er aus.
»Ich versuche, mich wieder an meinen Körper zu gewöhnen.« Er drehte weiter seine Zigarette. »Robert und Lennie, weißt du?«
Krista lehnte die Krücken an die Wand und setzte sich auf die Bettkante. Sie streichelte sein Knie. »Du solltest mal meine Eltern sehen, die sind auch nicht gerade ein Traum.«
Walker lachte. Er legte die unfertige Zigarette auf den Nachttisch, und der Tabak fiel heraus. Er berührte ihr Gesicht. »Ich bin froh, dass du bei mir bist.«
»Ich auch«, sagte sie. Sie meinte, Tränen in seinen Augen zu sehen. Sie war bestürzt. Sie umfasste sein Gesicht mit beiden Händen.
Walker kniete sich hin und zog sie an sich. Er küsste sie, und sie küsste ihn wieder.
Für Krista war es immer ein Akt besonderer Tapferkeit gewesen oder das Ergebnis eines vorsätzlichen Besäufnisses, wenn sie, egal in welcher Situation, mit einem Mann zusammen war. Bei Walker war es anders. Natürlich hatte der Gedanke sie gequält, wie es sein würde, sich vor ihm auszuziehen – die eine Hüfte eingedellt, wo sie rund sein sollte, das rechte Bein leicht verkümmert, Narbengewebe quer über
Weitere Kostenlose Bücher