Ausgesetzt
Hüfte – seine Augen zuckten nur kurz hinunter. Dann schaute er ihr wieder ins Gesicht.
»Vielleicht können Sie uns helfen. Wir wissen eigentlich nicht weiter.«
»Sie wissen nicht, wo Sie sind?«
»Doch, doch. Wo wir sind, wissen wir. Aber nicht, wie’s weitergehen soll. Stimmt’s, Walker.«
Krista hatte etwas an dieser strengen Persönlichkeit erspürt, das Walker entgangen war. Es war weder Heiligkeit noch Gnade oder ein anderes dieser großen Worte, sondern einfach nur Güte. Der Mann, der hier vor ihr stand, war schlicht keiner Tat fähig, die nicht anständig, taktvoll und gütig war.
»Walker ist auf der Suche nach seinen Eltern«, sagte sie. »Er glaubt, dass Sarah Nuremborski seine Großmutter ist, ist sich aber nicht sicher.«
Der Geistliche blickte wieder auf Walker, betrachtete ihn jetzt eingehender, fast so, als rechne er damit, ihn wiederzuerkennen. »Mrs. Nuremborski war eine wunderbare Frau«, sagte er – als wolle er sie in Schutz nehmen, dachte Walker. »Ich habe sie viele Jahre gekannt.«
Er sah sich um nach einem geeigneten Grabstein, um sich hinzusetzen, fand einen und ließ sich mit seinen zwei Metern steif darauf nieder. »Dreißig Jahre werden es jetzt sein, dass sie zum ersten Mal hierherkam. Sie liebte diese Insel. Sie sagte, sie habe sich vom ersten Augenblick an zu Hause gefühlt. Ganz anders als ihr Mann. Ich habe ihn als einen von diesen Herren in Erinnerung, die etwas voller Begeisterung kaufen, und wenn es dann nicht ihre Gelüste stillt, so wie sie es sich vorgestellt haben, dann verlieren sie die Geduld und ziehen weiter. Unsere kleine Insel ist mit einer ganzen Reihe solcher Leute gesegnet, die von weither zu uns kommen. Aber Mrs. Nuremborski kam immer wieder, ganz selten mit ihrem Mann, meistens mit den Kindern. Weihnachten. Ostern. Manchmal blieb sie einen ganzen Monat. Sie fühlte sich zu Hause. Auch in unserer Kirche. Und ich bin sicher, auch hier fühlt sie sich zu Hause.«
Er schob sich den Hut ein wenig aus der Stirn, vielleicht zur Kühlung, vielleicht aber auch als geheimes Zeichen für Mrs. Nuremborski unter ihrem rosa Stein.
»Dann kannten Sie also auch ihre Tochter? Lenore?«, fragte Krista.
Der Mann sah sie an, als hätte er diese Frage bereits erwartet. Nun schien er ein wenig traurig. »Ja«, sagte er, »ein wunderschönes kleines Mädchen. Sie kamen gemeinsam zur Kirche, Mutter und Tochter. Manchmal kam Mrs. Nuremborski einfach nur zum Beten her. Damals war die Tür nie verschlossen. Manchmal kam ich her, um dies und das zu erledigen, und sie saß allein in der Kirche, tief ins Gebet versunken. Sie betete allein und machte keine öffentliche Veranstaltung daraus.«
»Kannten Sie Lenores Bruder, Robert?«, fragte Walker und ließ dabei das Gesicht des Geistlichen nicht aus den Augen.
»Nicht so gut, nein. Nicht so gut«, antwortete dieser, sein Gesicht so unergründlich wie die Grabsteine hinter ihm.
»Haben Sie Lenore auch später noch gesehen, als sie schon größer war?«, fragte Krista liebenswürdig. »Sie brachte doch ein Kind hier zur Welt?«
Der Seelsorger nahm den Hut ab. Oberhalb der Schläfen war sein graues Haar einer glänzenden schwarzen Glatze gewichen. Er drehte die Hutkrempe in der Hand, fuhr das Band mit dem Finger nach. Er sah Walker an, als wüsste er, worauf sie mit diesen Fragen hinauswollten. »Ich habe sie getraut«, sagte er.
Walker starrte ihn einen Augenblick an. Krista ebenso.
»Was haben Sie?«, fragte er.
»Das ist unmöglich«, sagte Krista.
»Doch. Im geheimen. Kurz nachdem sie angekommen sind.« Er blickte wieder auf Sarah Nuremborskis Grab, diesmal ein wenig unschlüssig. »Ich bin sicher, dass das jetzt kein Geheimnis mehr ist.«
Krista kam näher, aber Walker blieb, wo er war. Am liebsten hätte er nicht mehr geatmet, damit er diese große schwarze Erscheinung nicht etwa verscheuchte.
»Warum im geheimen?«, fragte Krista.
»Wegen Mrs. Nuremborskis Mann. Anscheinend war der junge Mann nicht ganz nach seinem Geschmack.« Er sah von Walker wieder zu Krista. »Aber Lenore bekam ein Kind, und Mrs. Nuremborski wusste, dass die beiden sich liebten und auch weiter lieben würden, und so habe ich sie eines Morgens getraut. Vor Gott und vor Mrs. Nuremborski, aber vor niemandem sonst.«
»Mit wem?«, fragte Walker mit bebender Stimme. »Wen hat sie geheiratet?«
»Na, ihren Freund natürlich«, antwortete der Geistliche, und ein Hauch von Besorgnis zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, als ob Walker auch
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