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Ausgesetzt

Ausgesetzt

Titel: Ausgesetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James W. Nichol
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irgendwie geistlichen Beistand benötige. »Kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.«
    Damit stieß er sich vom Grabstein ab und ging über den Friedhof zum Tor. Entschlossen stieg er den Hang zur Kirche hinauf.
    Krista und Walker folgten ihm. Sie sprachen kein Wort. Wagten kaum, sich anzusehen.
    Krista bemühte sich, schnell voranzukommen, aber bergauf war Schwerarbeit. Walker ging langsam hinter ihr her. Er wusste, wenn er sie überholte, würde er nicht an sich halten können und dem davoneilenden Seelsorger hinterherrennen. Er überholte nicht. Und er hob sie auch nicht auf und rannte mit ihr im Arm. Er sah nur zu, wie sie sich hochquälte. Es brachte ihn fast um den Verstand.
    Schließlich kamen sie oben an. Kristas Gesicht und Haar waren tropfnass, als wäre sie gerade schwimmen gewesen. Der Geistliche war nirgends zu sehen, aber die Hintertür der Kirche stand offen.
    Sie eilten darauf zu und traten ein. Im Inneren der Kirche war es dunkel und kühl, aber sie konnten nichts sehen. Irgendwo vor ihnen hörten sie ein Schlurfen, dann schlug eine Tür zu und ein Deckenlicht ging an.
    Sie standen in einem leicht nach Moder riechenden Lagerraum. Der Geistliche – fast so hoch wie der Raum und nun mit Brille – stoppte die baumelnde Glühlampe mit seiner langen, knochigen Hand. Wortlos sah er auf einem Holzbrett nach und zog mehrere große, ledergebundene Bücher hervor.
    Mit feierlicher Miene legte er sie auf einen Tisch und wählte eines aus. Auf einem vergilbten Schild stand säuberlich mit blauer Tinte geschrieben: »1970–1979«. Er blies den Staub weg und begann, vorsichtig in dem Buch zu blättern.
    Walker und Krista standen ein wenig abseits, wachsam, als würden sie gleich Zeugen eines schrecklichen Unfalls.
    Der Geistliche wendete jede Seite einzeln und kräuselte dabei in höchster Konzentration die Lippen. Endlich kam er zu einer Seite, die sein Gefallen fand. Er wandte sich ein wenig den beiden zu, drückte einen bemerkenswert langen Finger auf das Papier und sagte: »Die Nuremborski-Hochzeit.«
    Walker trat zum Tisch und blickte auf die aufgeschlagene Seite hinunter. Er sah Zeichnungen von kleinen geflügelten rosa Liebesgöttern. Sie bildeten eine Art Kranz, und ihre Schamteile waren von gezielt drapierten flatternden blauen Fähnchen bedeckt. Alle bliesen Posaune. In der Mitte standen ein paar Zeilen in schwarzer gotischer Schrift und darunter ein paar Unterschriften in derselben blauen Tinte wie das Schild auf dem Umschlag.
    Krista trat zu ihm. Er fühlte ihre Nähe. Gemeinsam lasen sie leise: »Heute, am 21. Oktober im Jahre des Herrn tausendneunhundertundfünfundsiebzig, ist Lenore Janet Nuremborski in den heiligen Stand der Ehe getreten mit Kyle Walker Tennu.«
    Krista rang nach Luft und hielt sich die Hand vor den Mund.
    Walker starrte die Seite einfach nur an. Seine Augen fingen an zu brennen.
    »Du bist nach deinem Vater benannt«, sagte Krista. »Siehst du? Kyle Walker Tennu.«
    Als ob Walker es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, als ob diese Augen nicht soeben ein Loch in diese Seite brannten.
    Als ob sein Herz nicht seine Brust sprengte.
    »Siehst du?«, fuhr sie fort. »Lennie hat Kim die Wahrheit gesagt. Die ganze Wahrheit. Du bist Lennies Sohn. Und du bist auch Kyles Sohn.«
    Walker deutete auf eine Zeile weiter unten, wo Lenore und Kyle ihre Staatsangehörigkeit eingetragen hatten.
    Neben ihren Namen hatte Lenore »kanadisch« geschrieben. Neben Kyles Namen stand: »Volk der Cree«.
    Der Geistliche sah, wo Walker hinzeigte. »Ja«, sagte er. »Das habe ich erst später gesehen. Ich habe es nie erwähnt, weil ich es nicht für relevant hielt.«
    »Damit hat er eine politische Erklärung abgegeben, mein Vater«, sagte Walker, und er dachte: mein Vater. Mein Vater.
    »Das war ein Teil des Problems, wissen Sie. Zumindest in Mr. Nuremborskis Augen«, sagte der Geistliche. »Dass Ihr Vater Indianerblut in den Adern hatte. Diese Schande ertrug Mr. Nuremborski nicht.«
    »Mhm«, machte Walker. Er rieb sich die Augen. Seine Wangen waren nass. Er wollte schreien, so laut er nur konnte. Irgendwas. Er wusste nur nicht, was. Ja! Ja! Ja!
    »Walker«, sagte Krista leise, fast wie zu sich selbst, »du bist ein jamaikanischer Indianer.«
    Wie betäubt ging Walker zurück zum Wagen. Er vergaß, Krista hineinzuhelfen, er schlug einfach die Tür zu und blieb hinter dem Lenkrad sitzen. Sie musste es allein schaffen, und sie schaffte es.
    Einen Augenblick saß sie einfach nur neben ihm.
    »Hallo«, sagte

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