Ausgesetzt
unschlüssig, was er am nächsten Tag machen sollte. Er hatte vorgehabt, das Blockhaus zu finden und das Foto herzuzeigen, in der Hoffnung, jemand könne die Frau oder die Kinder identifizieren. Aber er hatte kein Foto mehr und auch keinen Brief. Und Krista hatte kein Auto mehr.
Er versuchte, sich den Mann vorzustellen, der den Audi gefahren hatte, aber dessen Gesicht blieb ein verschwommener rosa Klecks. Wie sehr er sich auch bemühte, die Züge des Fremden wurden nicht deutlich.
Beim ersten Tageslicht erwachte Walker, ins Tuch gewickelt, zitternd. Nebel lag über dem Gras und verhüllte die dahinter liegende Anhöhe. Die Luft über dem See war seltsamerweise vollkommen klar. Das Wasser war glatt und farblos wie der Morgenhimmel. Er konnte weit sehen, aber nirgendwo war eine Linie zu erkennen, wo Wasser und Himmel zusammenstießen. Es gab keine Boote, die ihm hätten helfen können, die Entfernung zu schätzen. Keine umherfliegenden Vögel. Kein Geräusch.
Walker sah auf die Uhr. Es war viertel vor sechs. Er überlegte kurz, ob er Feuer machen sollte, begnügte sich jedoch damit, sich eine Zigarette zu drehen und anzuzünden. Dann wusch er sich Hände und Gesicht am Ufer des Sees. Er hatte Hunger. Und einen Riesendurst.
Er betrachtete das Wasser, das sich um seine Arbeitsstiefel kräuselte. Das Wasser des Lake Superior konnte man trinken, wenn es nicht anders ging, und der Magen würde es aushalten. Aber das des Eriesees? Walker hatte immer gehört, dass die unteren Großen Seen nichts anderes waren als offene Kloaken, Auffangbecken für alles, was Chicago, Detroit und Sarnia gerade dort abzuladen gewillt waren. Noch einmal sah er sich das Wasser an, schöpfte eine Handvoll und trank schnell. Er konnte sich nicht zurückhalten und trank noch mehr.
Nun, da sein Durst gelöscht war, stand er auf und ging am Ufer entlang Richtung Mary’s Point.
Ein Dutzend Strandläufer kam ihm entgegen. Eilig trippelten sie über den nassen Sand und durch zentimeterhohes Wasser, als kämen sie zu spät zur Arbeit.
Bei diesem Gedanken musste Walker lächeln. Langsam wurde ihm wärmer, und er fühlte sich besser.
Er begann zu proben, was er sagen würde, wenn er das Haus auf dem Foto gefunden hatte. Die beiden Namen aus dem Brief wusste er ja noch: Kim, die Schreiberin, und Lennie, seine Mutter. Aber es waren über dreißig Jahre vergangen, wer würde sich an sie erinnern?
Als Walker wieder an dem Schild vorüberkam, das den Privatstrand ankündigte, durchbrach im Osten, wie Licht von einem weit entfernten Leuchtturm, eine schwache Sonne den Nebel. Einen Augenblick später stand er wieder vor dem Häuschen aus Zedernschindeln, das er und Krista am Vortag gesehen hatten. Die Läden waren noch immer geschlossen. Es sah aus, als sei niemand da.
Er ging weiter am Ufer entlang. Es war einfacher heute, viel einfacher, ohne Krista. Kaum hatte er das gedacht, hatte er ein schlechtes Gewissen. Er versuchte, nicht mehr an sie zu denken.
Er kam an einem weiteren Häuschen vorbei. Es war größer als das erste, mit verwitterten grauen Schindeln gedeckt, zweistöckig – kein Häuschen, sondern eigentlich ein Sommerhaus, mit einer eleganten altmodischen Veranda auf zwei Seiten. Aber die Umgebung war kein bisschen so, wie das, was er suchte. Er musste nach einer hohen Sandklippe Ausschau halten, mit einer Reihe von Kiefern oben drauf und einem breiten Sandstreifen darunter, aber es war keine Anhöhe zu sehen. Der Nebel verflüchtigte sich über den Baumwipfeln, und so weit Walker das Ufer entlang Richtung Landspitze sehen konnte, fiel der Boden flach zum Strand hin ab.
Es war nach halb sieben, als er die flache Felsbank erreichte, die den äußersten Punkt der Landspitze bildete. Nichts als Wasser lag vor ihm.
Walker setzte sich auf einen Felsvorsprung. Er war an mindestens acht Häusern vorbeigekommen. Die meisten alt, groß und elegant, und die meisten leerstehend. Vor einigen standen Autos oder Kleintransporter, aber überall schienen die Leute noch zu schlafen.
Er schaute nach Osten. Die Felsbank umgab die Spitze soweit sein Auge reichte. Wenn es auf der Ostseite keinen Strand gab und keine Sandklippe, dann war er am falschen Mary’s Point.
Ein hochgewachsener älterer Mann mit Schlapphut auf dem Kopf und Angelrute in der Hand kam über den flachen Felsen auf ihn zu.
Rasch stand Walker auf.
»Ein schöner Morgen«, sagte er zu dem Mann, der mit reichlich Abstand an ihm vorüberging.
»Besuchen Sie hier jemand?«, fragte
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